Türkei geht gegen PKK vor: Häuserkampf im Wohngebiet
Mit Panzern und Scharfschützen kämpfen türkische Sicherheitskräfte gegen die PKK. Mehr als 100 Menschen sind bereits getötet worden.
Rund 10.000 Soldaten, teilweise mit schweren Waffen und Panzern ausgerüstet, hat der Generalstab in Marsch gesetzt, um kurdische Ortschaften anzugreifen, in denen sich Kämpfer der Patriotischen kurdischen revolutionären Jugend (YDG-H) verbarrikadiert haben, um sogenannte befreite autonome Zonen zu errichten.
In den vergangenen drei Tagen konzentrierten sich diese Kämpfe auf die nahe der irakischen Grenze liegenden Städte Cizre und Silopi, aber auch auf die Altstadt der kurdischen Metropole Diyarbakir, die ebenfalls schon seit Wochen umkämpft ist. Dabei gehen die Soldaten mit bisher nicht gekannter Brutalität vor. Ganze Viertel werden von der Außenwelt abgesperrt, Strom und alle Kommunikationslinien gekappt, die Bewohner dürfen ihre Häuser nicht verlassen.
Danach gehen Trupps der berüchtigten Sondereinheiten „Esdullah Timleri“ von Haus zu Haus, um nach Waffen und Mitgliedern der YDG-H zu suchen oder andere vermeintliche PKK-Anhänger festzunehmen. Auf jeden, der eine falsche Bewegung macht, wird geschossen, Menschen werden geschlagen und verschleppt.
Martialische Sprüche
Die Spezialeinheiten sind ein neues Phänomen auf dem Kriegsschauplatz. Sie sind maskiert, niemand weiß, wer unter den Masken steckt. Laut Gerüchten sprechen viele von ihnen Arabisch; Kurden vermuten, es handele sich um Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS).
Bekannt wurden die Einheiten mit martialischen Sprüchen, die sie auf den Wänden zerstörter Häuser hinterlassen. Der Kovorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, sagte am Samstag der Deutschen Presseagentur: „Diese Spezialeinheiten können verhaften, wen sie wollen, foltern, wen sie wollen, und töten, wen sie wollen. Mit Menschenrechten und einem Rechtsstaat hat das nichts mehr zu tun.“
In Cizre und Silopi herrscht teilweise seit Wochen eine Ausgangssperre, in Sur, der Altstadt von Diyarbakir, seit dem 2. Dezember. „Diese Ausgangssperren sind für uns das letzte Mittel, um zwischen Zivilisten und Kombattanten zu unterscheiden“, sagt das türkische Militär. Im Klartext heißt das, wer das Haus verlässt, ist ein Terrorist und wird erschossen.
In Diyarbakir wurde die Ausgangssperre nur einmal für acht Stunden aufgehoben, damit die Leute sich Wasser und Lebensmittel besorgen konnten. Über 10.000 Zivilisten verließen in dieser Zeit Sur. Diyarbakirs Altstadt, erst vor Kurzem von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt, wird bei den Kämpfen immer mehr beschädigt.
Rufe nach der EU
Tahir Elci, Vorsitzender der Anwaltskammer von Diyarbakir, wurde im November erschossen, als er in der Altstadt öffentlich zu einem Waffenstillstand aufrief, nicht zuletzt, um eine weitere Zerstörung zu stoppen. Davon halten allerdings sowohl die türkische Regierung wie auch die kurdischen Kämpfer nichts.
Präsident Recep Tayyip Erdogan verkündete letzte Woche zu Beginn der Militäroffensive, man werde den Kampf so lange fortsetzen, bis der letzte „Terrorist“ vertrieben oder getötet sei. Aber auch die jungen Kämpfer wollen sich von den kurdischen Politikern der HDP nichts mehr sagen lassen. Aufrufe zum Waffenstillstand von HDP-Chef Selahattin Demirtas verhallten ungehört.
Die größte türkische Menschenrechtsorganisation, IHD, fordert jetzt die EU auf, sich endlich in den Konflikt einzuschalten. Der IHD-Sprecher von Diyarbakir, Abdusselan Inceören, sagte der dpa, man fordere Brüssel auf, eine Delegation ins Konfliktgebiet zu schicken. Doch Brüssel hält sich zurück. Während seines Besuchs am Freitag bekam der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu kein kritisches Wort zu hören. Er wird für den Stopp der Flüchtlinge gebraucht.
In seiner Verzweiflung kündigte Demirtas jetzt an, er werde am Mittwoch nach Moskau fliegen, um den russischen Außenminister Sergej Lawrow zu treffen. Die HDP werde ein Büro in Moskau eröffnen. Angesichts des Zerwürfnisses zwischen Erdoğan und dem russischen Präsidenten Putin kann das in Ankara nur als Provokation verstanden werden.
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