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Türkei gegen NGOsEin plumper Deckmantel

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Ankara hat ein Gesetz beschlossen, das NGOs verbieten kann. Selbst Lebensmittelspenden könnten künftig als „Finanzierung von Terroristen“ gelten.

Präsident Erdoğan hat alles im Griff – jetzt auch die für ihn unbequemen zivilen Initiativen Foto: ap

W ährend der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan immer wieder Schaufensterreden über Reformen und Demokratieerneuerung hält und die EU zu einem Neuanfang in den gegenseitigen Beziehungen aufruft, ist seine Regierung in der Praxis dabei, die letzten demokratischen Spielräume in der Türkei zu beseitigen.

Nachdem zunächst das Parlament, die Justiz und die Medien des Landes weitgehend unter die Kontrolle des Präsidenten gebracht wurden, sind nun die vielfach oppositionellen Berufsverbände und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) an der Reihe. Im letzten Jahr wurde ein Gesetz verabschiedet, mit dem die Anwaltskammern der Türkei, in denen regierungskritische Juristen den Ton angeben, dadurch bedeutungslos gemacht werden sollen, dass regierungsnahe Konkurrenzorganisationen zugelassen werden.

Die türkische Ärztekammer, die die Regierung während der Pandemie immer wieder massiv kritisiert und auch die offiziellen Zahlen infrage stellt, wurde von Erdoğan bereits in die Nähe von Terroristen gerückt. Prompt forderte sein rechtsradikaler Koalitionspartner das Verbot der Kammer. Jetzt hat das Parlament auf Wunsch des Präsidenten ein Gesetz verabschiedet, mit dem NGOs verboten werden können, wenn eines ihrer Mitglieder verdächtigt wird, Terrororganisationen zu finanzieren.

Das bedroht alle Nichtregierungsorganisationen und besonders solche, die in irgendeiner Weise in den kurdischen Gebieten aktiv sind. Selbst Lebensmittelspenden können da zur „Finanzierung von Terroristen“ mutieren. Die EU sollte sich von den Reden Erdoğans nicht blenden lassen und eine Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit verweigern, solange die türkische Regierung jede rechtsstaatliche Haltung ad absurdum führt und ihre Kritiker mit allen Mitteln mundtot macht.

Das betrifft die NGOs, aber auch die politischen Gefangenen, wie den früheren Vorsitzenden der Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtaş, und andere, die selbst nach Aufforderung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs nicht freigelassen werden.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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7 Kommentare

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  • Was passiert wenn man alles verbietet und einem keine legalen Wege lässt? Sie gehen in den Untergrund und werden was? Ja, genau Terroristen!

    Früher war es ein Mittel gegen die kurdischen Organisationen und jetzt wird es auch gegen die anderen Parteien und Ihnen nahestehenden Organisation verwendet. Hier an anderer Stelle habe ich schon gesagt, dass der Verlauf dem in dritten Reich ähnelt auf politischer Ebene. Was ist aber auf gesellschaftlicher Ebene?

    Was ist mit dem Vergewaltigungsgesetz, wenn der Vergewaltiger danach die vergewaltigte heiraten darf? Welche Rechtsgrundlage wird hier herangezogen?

  • Problem ist auch, daß die Türkei unter diesem Herrscher noch NATO-Mitglied ist.



    Da kann er dann kriegerische Handlungen anzetteln und die NATO insgesamt mit reinziehen.

    Unsere EU-Häuptlinge sind hier viel zu lasch. Es fehlt ein konsequenter, klarer Ton....

  • deutlicher können die zeichen nicht sein ...

    das die tage gezählt sind und sich letztlich die demokratischen kräfte in der türkei durchsetzen werden.

  • "Die EU sollte sich von den Reden Erdoğans nicht blenden lassen [...]"

    Haha. Der war gut.

    Manche der Mächtigen in "der EU" träumen insgeheim von der Beinfreiheit, die Erdoğan geniesst. Dan reden sie von "Werten".

  • Ganz so radikal wie die Türkei geht unsere Regierung ja nicht gegen "NGO's" vor.



    Hierzulande arbeitet man subtiler.



    Da wird einfach ungeliebten NGOs mit fadenscheinigen Argumenten die Gemeinnützigkeit entzogen und im Zuge dessen Unsammen an Steuern nachgefordert - dann sind die auch kaputt.

    taz.de/Reform-der-...inn%C3%BCtzigkeit/

    www.attac.de/kampa...gemeinnuetzigkeit/

    taz.de/Keine-Einig...inn%C3%BCtzigkeit/

    taz.de/Kundgebung-...inn%C3%BCtzigkeit/

  • Erdoğan hat Blut an den Händen und gehört nach Den Haag überstellt.Er hat den Staat zu einer Mafia Organisation umgebaut.Ich weiss beim besten Willen nicht warum die EU keine gemeinsame Linie findet.Ist es so schwer seine Grenzen zu schützen?Ist es so schwer diese Mafiosi in der Türkei strafrechtlich zu Belangen sobald Sie europäischen Boden betreten?Ich stell mir das nicht so schwer vor.Die haben alle Blut an den Händen.

    • @Reginald Bull:

      Mit so einer vorgehensweise gegen Erdogan würde in Deutsch bzw. der EU ein Bürgerkrieg ausbrechen.