Türkei auf dem Brics-Gipfel: Erdogan will auf beiden Seiten des Tisches sitzen
Der türkische Präsident kommt zum Brics-Gipfel. Er hofiert aber nicht Putin, sondern verfolgt eigene Ziele.

Es ist nicht das erste Mal, dass Erdoğan an einem Brics-Gipfel als Beobachter teilnimmt, doch dieser Auftritt wird mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt, weil die Türkei angeblich einen förmlichen Antrag zur Mitgliedschaft gestellt hat. Sollte die Türkei beitreten, wäre sie der erste Nato-Staat in dem nichtwestlichen Bündnis.
Will die Türkei ihre Bindungen an den Westen lockern oder gar ganz abbrechen? So einfach ist es nicht. Nachdem im Juni im Anschluss an ein Treffen der Brics-Außenminister ein russischer Sprecher erklärt hatte, die Türkei habe einen förmlichen Aufnahmeantrag gestellt, drückte sich Ankara um eine klare Stellungnahme. Im September sagte dann Regierungssprecher Ömer Çelik: „Unsere Anfrage in dieser Angelegenheit ist klar, der Prozess ist im Gang.“ Welcher Prozess das genau sein soll, ist immer noch unklar.
Klar ist nur, dass Russland angesichts seines Kriegs in der Ukraine sehr gerne die Türkei an seiner Seite hätte. Für Putin wäre es ein enormer Propagandaerfolg.
Doch genau das will Erdoğan vermeiden. In einer Grundsatzrede vor seiner Fraktion hat er kürzlich klargemacht, welche Außenpolitik die Türkei verfolgen soll. „Angesichts der Spannungen in der Region“, sagte er, „müssen wir ein Gleichgewicht in unseren Auslandsbeziehungen herstellen. Die Türkei kehrt weder dem Osten noch dem Westen den Rücken zu. Das ist für uns eine Notwendigkeit.“
In einer Analyse der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu schreibt Yunis Scharifli, eine Zusammenarbeit mit Brics diene dazu, die türkischen Exporte in die Brics-Länder zu steigern, die Brückenfunktion der Türkei zwischen Ost und West zu stärken und die „strategische Autonomie“ der Türkei zu verbessern.
Tatsächlich hat die Türkei ein starkes Handelsungleichgewicht mit den Brics-Ländern, vor allem mit China. Die Türkei importierte aus China im Jahr 2023 je nach Rechnung Güter im Wert von 38 bis 45 Milliarden Dollar, exportierte aber umgekehrt nur für 3,3 Milliarden Dollar. Auch gegenüber Russland hat die Türkei ein chronisches Defizit, aufgrund ihrer Öl- und Gasimporte.
Dem Handelsblatt sagte Asli Aydintasbas vom Washingtoner Brookings Institut: „In der Türkei herrscht eine gewisse Panik, dass eine neue Weltordnung entsteht und die Türkei nicht mit dabei ist.“ Gemeint ist, dass der Westen seine Lieferketten wieder mehr nach Hause verlagert und demgegenüber um China und Russland herum ein antiwestlicher Wirtschaftsblock entsteht.
Erdoğan will weder auf der einen noch auf die anderen Seite, sondern überall mit „am Tisch sitzen“, wie sein Regierungssprecher Ömer Celik sagt.
Entsprechend meinte Erdoğan vor seinem Abflug nach Kasan: „Brics ist für uns keine Alternative zu anderen Strukturen, es ist eine Ergänzung.“ Die Frage ist, ob die sich verfestigenden westlichen und östlichen Blöcke Erdoğans Schaukelpolitik auf Dauer mitmachen.
Ganz offensichtlich sind westliche Länder besorgt, dass ihnen die Türkei entgleiten könnte. Ein sichtbares Zeichen dafür ist, dass lange verweigerte Rüstungslieferungen aus den USA und Deutschland wieder aufgenommen wurden.
Bei seinem Besuch in Istanbul am Samstag sagte Bundeskanzler Olaf Scholz, ohne eine Miene zu verziehen, die Türkei sei doch ein normales Nato-Land, welches man mit Kriegsgerät beliefere wie alle anderen. Jahrelang hat man das in Berlin anders gesehen. Erwartet wird dafür, dass sich die Türkei im Krieg Russlands gegen die Ukraine letztlich klar für die ukrainische Seite entscheidet.
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