Tsakalotos über Griechenlands Linke: „Linken wurde Sauerstoff entzogen“
Griechenlands Ex-Finanzminister Euklid Tsakalotos über die Coronapandemie, die Krise der Linken in Europa und seine Hoffnungen auf Rot-Rot-Grün.
taz: Herr Tsakalotos, im Vergleich zu Deutschland hat Griechenland auf die Coronapandemie mit deutlich härteren Maßnahmen reagiert. So gab es unter anderem sehr weitgehende Ausgangssperren. Wie zufrieden sind Sie mit der Anti-Corona-Politik der konservativen Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis?
Euklid Tsakalotos: Ich denke, dass es die Regierung während der ersten Coronawelle ganz gut gemacht hat. Es gab zunächst verhältnismäßig wenig Infektionen und Todesfälle, die Krankenhäuser sind nicht so stark unter Druck geraten wie befürchtet. Auf die zweite und dritte Welle hätte die Regierung aber schneller und konsequenter reagieren müssen. Das war ein bitterer Fehler, den leider auch andere Regierungen in Europa begangen haben. Die zu späte Reaktion hat viele Menschenleben gekostet.
Ich hoffe sehr, dass wir jetzt die Pandemie so gut es geht im Griff haben, auch wenn wegen der gefährlichen Deltavariante weiter Vorsicht angesagt ist. Wichtig dafür ist, dass die Regierung das Impfprogramm einigermaßen ordentlich organisiert hat. Allerdings ist Griechenland noch nicht über dem Berg.
Angesichts der sonst üblichen rüden Umgangsformen in der griechischen Politik: Das ist eine sehr moderate Kritik.
Wir wollten von Anfang an den Menschen den Ernst der Krise klar machen. Die Coronapandemie eignet sich nicht für Fundamentalopposition. Es wäre nicht verantwortungsbewusst gewesen, die Maßnahmen der Regierung zum Gesundheitsschutz grundsätzlich in Frage zu stellen. Kritik ist kein Selbstzweck. Das bedeutet nicht, dass wir die Entscheidungen der Regierung überhaupt nicht kritisiert haben. Zum Beispiel drängten und drängen wir Mitsotakis selbstverständlich zu den längst überfälligen Investitionen in das öffentliche Gesundheitssystem. Wir können uns marode Krankenhäuser einfach nicht leisten.
geboren 1960, ist Ökonom, bezeichnet sich als Marxist und gehört seit 2012 dem griechischen Parlament an. Als Nachfolger von Yanis Varoufakis war das Gründungsmitglied von Syriza, der „Koalition der Radikalen Linken“, vom Juli 2015 bis zum Juli 2019 Finanzminister von Griechenland.
Neben den harten Lockdowns hat Mitsotakis zur Abfederung der wirtschaftlichen Krise Unternehmen finanziell unterstützt und eine Art Kurzarbeitergeld eingeführt. Was hätte sein linker Vorgänger Alexis Tsipras anders gemacht?
Für mich gibt es auch hier ein gemischtes Bild. Ja, die Regierung hat Geld in die Hand genommen – aber es war zu wenig, und das Geld floss weder schnell noch lang genug. Es fehlte die Zielgenauigkeit: Wie stellen Sie sicher, dass die Unterstützung nicht nur an die großen Unternehmen geht, sondern vorrangig zu den kleinen und mittleren Betrieben? Das ist ganz entscheidend.
Was bedeutet das konkret?
Eine Syriza-Regierung hätte sich vor allem auf diejenigen Branchen und Betriebe konzentriert, die tatsächlich Hilfe benötigen. Die Wirtschaftsstruktur Griechenlands wird dominiert von mittelständischen Unternehmen, wobei darunter etwas anderes zu verstehen ist als in Deutschland. Dort hat ein mittelständisches Unternehmen 50 bis viele hundert Beschäftigte, in Griechenland sind es durchschnittlich nur bis zu fünf Beschäftigte. Diese kleinen Firmen hat die Krise schwer erwischt. Außerdem hätte wesentlich mehr für die Beschäftigten im Kulturbereich getan werden müssen. Aber für die hat sich die Mitsotakis-Regierung nicht interessiert.
Gibt es eine Lehre, die Sie aus der Coronapandemie ziehen?
Nicht nur in Griechenland, sondern auf der ganzen Welt überdenken die Menschen ihre Werte, was im Leben wichtig ist. Das ist neben der Gesundheit die Bedeutung des Staates bei der Bewältigung einer solchen Krise, aber auch die Bedeutung der Solidarität unter den Menschen. Die spannende Frage ist, was passieren wird, wenn die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie offensichtlicher werden. Wer wird die Kosten der Krise zahlen müssen? Das dürfte eine harte gesellschaftliche Auseinandersetzung werden.
Vor zwei Jahren wurde Tsipras von Mitsotakis abgelöst. Jenseits der Coronakrise: Hat sich seit dem Regierungswechsel etwas Gravierendes in Ihrem Land verändert?
Ja, das hat es. Die Nea Dimokratia steht für eine Mischung aus neoliberaler Ökonomie und Autoritarismus. Eines ihrer ersten Gesetze zielte darauf ab, zugunsten der Arbeitgeber Tarifverhandlungen zu erschweren. Als Anhängerin der Trickle-down-Ökonomie macht sie Steuererleichterungen für die Reichen, senkt die Vermögenssteuer auf Immobilien für die Reichen und die Körperschaftssteuer. Gleichzeitig verschlechtert die Regierung die Arbeitsbedingungen für die Lohnabhängigen. Trotz eines Generalstreiks hat sie Mitte Juni ihre arbeitnehmerfeindlichen Arbeitsreformgesetze durch das Parlament gepeitscht, die den 8-Stunden-Tag aushebeln, Entlassungen vereinfachen und das Streikrecht aushöhlen.
Trickle-down-Ökonomie meint etwas verkürzt: je reicher die Reichen werden, desto mehr fällt auch für die unteren Schichten der Gesellschaft ab, weswegen man im Deutschen auch von Pferdeäpfel-Theorie spricht.
Diese Bezeichnung zeigt den Zynismus ganz gut. Joe Biden hat völlig recht, wenn er sagt: Die Trickle-down-Ökonomie hat noch nie funktioniert und es ist an der Zeit, die Wirtschaft von unten und von der Mitte her wachsen zu lassen. Deswegen macht die ganze Herangehensweise von Mitsotakis an die Wirtschaft keinen Sinn. Sie ist unsozial und verschärft die Ungleichheit in einem Land, in dem es vielen Menschen ohnehin nicht gut geht.
Der Popularität von Mitsotakis scheint das aber nicht besonders zu schaden. In den Umfragen liegt die Nea Dimokratia allerdings weit vor Syriza.
Die Pandemie hat eine weitgehende Aussetzung der klassischen Auseinandersetzungs- und Kommunikationsformen von Politik zur Folge gehabt. Der Linken wurde der Sauerstoff entzogen, es gab keine Gelegenheit mehr, bei Veranstaltungen oder in Cafés zu diskutieren. Die Menschen haben verständlicherweise Angst, sie machen sich Sorgen um ihre Gesundheit. In einer solchen Lage gibt es die allgemeine Tendenz, diejenigen zu unterstützen, die an der Macht sind. Das ist in Griechenland nicht anders als in anderen Ländern. Aber das ist ein Zustand, der sich wieder verändert.
Glauben Sie, dass es für Ihre Partei eine zweite Chance geben wird, an die Regierung zu kommen?
Der Sauerstoff für die Linke kehrt langsam zurück. Ja, wir liegen hinter der Nea Dimokratia, aber unsere Ausgangsposition ist trotzdem keine schlechte. Wenn ich mit Linken aus anderen europäischen Ländern spreche, sind sie erstaunt, wie hoch Syriza in den Umfragen steht, nämlich bei knapp unter 30 Prozent. Wir haben eine starke Verankerung in der Bevölkerung.
Mein Gefühl ist, dass die Anerkennung für das, was Syriza trotz aller Probleme an der Regierung gemacht hat, wächst. Dazu zählt die Verbesserung des öffentlichen Gesundheitssystems, auch wenn das noch weit stärker ausgebaut werden muss. Auch ist uns gelungen, die Armut und die Kinderarmut um drei Prozentpunkte zu senken. Wir haben in einem schmerzhaften Prozess den griechischen Staat überhaupt erst wieder ökonomisch handlungsfähig gemacht. Um nur drei Beispiele zu nennen. Unsere Bilanz ist besser, als es so mancher Linker in Europa hat wahrnehmen wollen.
Dann war also in der Syriza-Regierungszeit alles super?
Nein, überhaupt nicht. Wir hatten bekanntermaßen mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Denken Sie nur daran, dass der damalige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble Griechenland mit aller Macht aus dem Euro drängen wollte. Und sicherlich haben wir auch nicht alles richtig gemacht. Bevor Syriza an die Regierung kam, waren wir eine Protestpartei. Das war ein großer Sprung. Selbstverständlich müssen wir unsere Regierungsgeschichte aufarbeiten: was wir getan haben, was wir nicht getan haben, was uns aufgezwungen wurde und was wir jetzt tun können. Das ist gar keine Frage.
Was folgt daraus?
Syriza befindet sich gerade in einem Programmprozess. Am ersten Juli-Wochenende haben wir einen ersten Kongress dazu veranstaltet. Wenn nicht mehr die Pandemie in den Köpfen der Menschen an erster Stelle steht, werden wieder soziale Ungleichheiten in den Vordergrund rücken. Wir brauchen eine überzeugende Agenda, die realistisch, aber auch weiterhin radikal ist. Dabei sollten wir uns auf klare Botschaften zur Verbesserung der Lebenssituation der Menschen konzentrieren.
Für eine Partei links der Sozialdemokratie steht Syriza immer noch ziemlich gut da. Ob in Italien, Frankreich, Spanien oder den Niederlanden: In anderen europäischen Ländern sieht es für linke Parteien wesentlich schlechter aus. Die deutsche Linkspartei muss um den Einzug in den Bundestag fürchten. Wie erklären Sie sich das?
Es gibt in Europa einen konservativen, autoritären und neoliberalen Trend. Die interessante Frage ist, was in der nächsten Zeit geschehen wird, wenn die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sichtbar werden. Ich hoffe, dass die linken Parteien daraus neue Kraft schöpfen können. Dass sie sich in einer Krise befinden, ist unübersehbar. Ich kann nicht auf die Situation einzelner Parteien eingehen. Aber generell gilt aus meiner Sicht, dass eine positive linke Erzählung eminent wichtig ist, die die Menschen überzeugen und mitnehmen kann. Nach meinem Eindruck fehlt es daran.
Was meinen Sie damit?
Rechte Parteien setzen auf einen Kulturkampf, machen Stimmung gegen gesellschaftliche Minderheiten, Flüchtlinge oder auch die Gleichberechtigung der Frau. Ihre Antwort auf Ungleichheit und Ungerechtigkeit ist die Beförderung von Nationalismus und Rassismus. Das ist ein gefährliches Scheinangebot, das leider auch in der Arbeiterklasse auf fruchtbaren Boden fällt. Der Grund liegt darin, dass Teile der Arbeiterklasse traditionell kulturell eher konservativ eingestellt sind. Es hilft allerdings nichts, das einfach nur zu beklagen.
Noch fataler wäre es, sich diesem kulturellen Konservatismus anzupassen. Unsere Solidarität mit denen, die von Diskriminierung betroffen sind, dürfen wir nicht aufgeben. Die Frage ist vielmehr, was ist für abhängig Beschäftigte prioritär: die kulturelle oder die ökonomische Frage? Das gibt den Ausschlag für ihre Wahlentscheidung. Die Linke muss es schaffen, dass die Menschen den Glauben an die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse zurückgewinnen. Ich glaube, der frühere Linkspartei-Vorsitzende Bernd Riexinger hat das „verbindende Klassenpolitik“ genannt. Das trifft es schon nicht schlecht.
Was ist Ihre Hoffnung für Europa?
Erstens war ich schon immer ein glühender Proeuropäer, zweitens bin ich Optimist. Manche Dinge, die heute als unrealistisch gelten, können sich mit dem politischen Kräfteverhältnis ändern. Meine Vision wäre eine rot-rot-grüne Allianz in Europa, die ein neues Gleichgewicht zwischen Natur und Wirtschaft schaffen kann, zwischen Entwicklung und demokratischer Gleichberechtigung.
Ich hoffe, dass es der Sozialdemokratie endlich gelingt, ihre neoliberale Orientierung aus den Zeiten Tony Blairs und Gerhard Schröders zu überwinden, um mit den anderen beiden progressiven Parteienfamilien, also den Grünen und der Linken, an einem gemeinsamen europäischen Projekt zu arbeiten: einem Left-New-Green-Deal, der Ökonomie und Ökologie verbindet. Der Zugang zu guten Jobs, zu Bildung, zu Kultur und der Kampf für demokratische Rechte sowie gegen den menschengemachten Klimawandel gehören zusammen. Das ist die Herausforderung unserer Zeit.
Was erwarten Sie sich von der Bundestagswahl im September?
Es dürfte Sie wenig verwundern, dass ich mich über eine rot-rot-grüne Koalition sehr freuen würde. Ich habe jetzt keine Illusionen, dass SPD, Linkspartei und Grüne ein unglaublich radikales Programm umsetzen würden. Aber wenn sie gemeinsam gesellschaftliche Ungleichheit angehen, die Einwanderung humaner gestalten und den Klimawandel entschlossener bekämpfen würden, wäre das für ganz Europa ein wichtiges positives Zeichen.
Was halten Sie eigentlich von Olaf Scholz?
Er ist ein netter Mensch. Als Finanzminister habe ich mit ihm zusammengearbeitet. Aber er hat keine Vision. Es wäre großartig, wenn es einen deutschen Bernie Sanders gäbe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein