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Trends in der nordeuropäischen Literatur„Kolonialismus-Debatte beginnt“

Rückbesinnung auf Götter und Romane über dänischen Kolonialismus: Übersetzerin Gabriele Haefs über nordeuropäische Literatur.

Kollaborateur Vidkun Quisling mit Heinrich Himmler und anderen Nazigrößen. Foto: Bundesarchiv
Interview von Petra Schellen

taz: Frau Haefs, wie ist der Abend mit „New Voices“ zustande gekommen, den Sie bei den Nordischen Literaturtagen in Hamburg vorstellen?

Gabriele Haefs: Diese Nachwuchsautoren hat Norla, eine staatliche Stiftung zur Vermarktung norwegischer Literatur im Ausland, ausgesucht. Die Idee ist, noch während der Literaturtage deutsche Verlage für bislang unübersetzte Autoren zu finden.

Haben Sie eine Lieblings- „Voice“?

Sehr gut finde ich Nina Lykkes „Aufruhr in mittleren Jahren“ über eine Mittfünfzigerin, die auflebt, nachdem ihr Mann eine Jüngere geschwängert hat. Parallel gerät die junge Rivalin in genau jenes öde Leben hinein, das die Ex-Frau hinter sich ließ. Der Roman fängt harmlos an und wird immer süffisanter.

Während Andreas Tjernshaugens „Leben der Meisen“ eher populärwissenschaftlich ist. Und Maja Lunde schrieb „Die Geschichte der Bienen“ …

Im Interview2Inews: Gabriele Haefs

, geboren 1953, ist Übersetzerin unter anderem aus dem Norwegischen, Dänischen und Schwedischen und moderiert bei den Nordischen Literaturtagen.

Ja, es gibt einen Trend, auch Sachbücher in die Lesetage hin­einzunehmen. Wobei Lundes „Leben der Bienen“ aber eine hoch literarische Dystopie ist. Der Roman spielt im China der Zukunft. Die Bienen sind ausgestorben, und alle Kinder werden gezwungen, Blüten von Hand zu bestäuben. Diese Mischung aus Sachbuch und Belletristik liegt in Nordeuropa zurzeit im Trend.

Wohingegen der Isländer Einar Kárason in „Die Sturlungen“ die raue Wikingerzeit aufruft.

Ja – wobei immer durchscheint, dass sich die Menschen nicht grundlegend ändern. Ob ich als Wikingerhäuptling die Macht an mich reiße oder heutzutage als Präsident … Kárason ist übrigens kein Einzelfall. Tatsächlich findet in den nordeuropäischen Gesellschaften gerade eine Rückbesinnung auf alte Gottheiten statt.

Zeugt das von Nationalismus?

Ich glaube nicht. Das Christentum ist einfach ein bisschen „out“ – wie hier auch –, und man sucht andere, frühere Wurzeln. Und sicher, es gibt ein paar Wikingerverbände, die angeblich alte Traditionen pflegen. Die meisten hegen aber einfach ein Interesse an der eigenen Geschichte.

Und wie haben die nordischen Länder NS-Zeit und Kollaboration literarisch verarbeitet?

Nazizeit und Deutschenfeindlichkeit werden ungebrochen wachgehalten, in Krimis zum Beispiel. Und was die Kollaboration betrifft: Sehr lange hielt sich der Mythos, dass alle im Widerstand gewesen seien. Inzwischen wird auch öffentlich zugegeben, dass das vielleicht doch nicht alle waren. Vor wenigen Tagen erschien zum Beispiel ein Sachbuch über den Bischof von Norwegens faschistischem Ministerpräsidenten Vidkun Quisling, der bis 1945 regierte. Das ist das erste Buch über die stark nazifizierte norwegische Staatskirche überhaupt.

Und wie steht es um die Deutschenfeindlichkeit der 1950er- Jahre, über die der Däne Knud Romer schreibt?

Sie wird meist totgeschwiegen; Romer, der dafür ja auch angefeindet wurde, ist ein Einzelfall. Die Besatzungskinder, in den 1950er-, 1960er-Jahren stark ausgegrenzt, sind dagegen schon länger Thema, etwa in norwegischen Romanen.

Der Däne Mich Vraa ist in seinem Roman „Die Hoffnung“ sogar bis zum Kolonialismus zurückgegangen.

Ja. Wussten Sie, dass Dänemark das letzte europäische Land war, das den Sklavenhandel beendete? Die dänische Regierung hat erst um 1850, kurz vor dem amerikanischen Bürgerkrieg, in ihren karibischen Kolonien die Sklaverei abgeschafft. Sie waren übrigens nicht die einzigen Profiteure: Schweden verdiente indirekt über den Handel mit. Auch Norwegen, bis 1805 unter dänischer Herrschaft, hat über seine Häfen mitverdient. Dieses Thema gerät aber gerade erst ins öffentliche Bewusstsein. In Dänemark etwa begann diese Debatte vor einem Jahr.

Warum jetzt?

Anlass waren Recherchereisen von Nachfahren jener Menschen, die als Sklaven auf den dänischen karibischen Kolonien litten. Diese Nachkommen suchten in Dänemark nach Spuren ihrer Vorfahren und der Täter und haben etliche Dänen befragt.

Wie haben sie reagiert?

Ambivalent: Einerseits waren die Befragten stolz auf ihr Land, seine Geschichte und auf den Widerstand ihrer Vorfahren gegen die Nazis. Beim Sklavenhandel beriefen sich dieselben Dänen plötzlich nicht mehr auf ihre Vorfahren und sagten: Das geht uns nichts an, das waren wir nicht, das ist lange her. Angesichts dieses Widerspruchs war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich Autoren des Themas annahmen.

Wächst auch der Anteil migrantischer Literatur in Nordeuropa?

Ja. Bedeutend ist zum Beispiel der 20-jährige, palästinensischstämmige Däne Yahya Hassan, der sehr gute Gedichte schreibt und sich mit der mi­grantischen Szene angelegt hat. Und das nicht, weil er gegen den Islam polemisiert, sondern gegen die Verhältnisse in den Familien: die Macht des Vaters, unter der nicht nur Frauen und Töchter leiden, sondern die auch die Söhne kaputtmacht. Seither wird er rund um die Uhr bewacht.

Und wie steht es seit Einzug der Rechten etwa ins norwegische Parlament um die Arbeitsbedingungen für Autoren?

Es könnte problematisch werden. Wenn Parteien, denen Kultur nicht wichtig ist, in der Regierung sitzen und Macht über die Fördergelder haben, bekommen Kulturschaffende im Zweifel weniger als vorher.

Trotzdem verdient ein Autor in Norwegen immer noch mehr als in Deutschland.

Das hängt davon ab, wie viel er verkauft. Aber es stimmt schon, die Tantiemen-Sätze sind höher als in Deutschland, und dass man leichter an Stipendien und Beihilfen herankommt. Die norwegische Buchpreisbindung existiert aber nur auf dem Papier: Von einem Stichtag an kann jeder Buchladen seine Bestände nach Gutdünken heruntersetzen, ohne Verlage oder Autoren zu informieren.

Nordische Literaturtage: Mo, 27. 11., bis Do, 30. 11., Hamburg, Literaturhaus

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