Treffen ehemaliger Bürgerrechtler: Noch immer Jeans
Unser Autor hat 1989 in Leipzig Theologie studiert, zusammen mit Rainer Müller. Beide waren Bürgerrechtler. Was ist aus der Bewegung geworden?
Die hätte uns nicht genommen, und wir wollten das auch nicht. Wir waren Totalverweigerer, wollten keinen Befehlen gehorchen und auch keinen waffenlosen Dienst als „Bausoldaten“ ableisten. Von der „Nationalen Volksarmee“ zwar in Ruhe gelassen, mussten wir damit rechnen, eines Tages vor Gericht zu stehen.
Unsere Hochschule war das Theologische Seminar, eine kleine kirchliche Einrichtung, deren Abschlüsse der Staat nicht anerkannte. Rainer war Maurer, ich LPG-Bauer, andere waren Tischler, Krankenschwestern, Schlosser. Viele, nicht alle, waren oppositionell eingestellt, viele, nicht alle, waren in Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen aktiv. Für die Stasi war das Seminar Sammelpunkt „feindlich-negativer Kräfte“.
Neulich erst hatte ich Rainer in Leipzig besucht. Das lange Haar ist inzwischen dünner, der Bart breiter als damals, die Jeans hat das gleiche verwaschene Blau. Am Brühl gegenüber dem Hauptbahnhof blieb er stehen und deutet auf eine farbenfrohe Wand. „Das Bild wird verschwinden“, sagte er. Ein Hotel wird bald die 3.000 Quadratmeter verdecken, die ein Heer von Menschlein mit aufgerissenen Augen zeigt, als ob sie nicht fassen können, was sie gerade erleben. „Freiheit“, „Stasi in den Tagebau“, „Freie Wahlen“ steht auf Transparenten – der Wendeherbst als Comic, erschaffen 1989. Ein Andenken an die Zeit, als Leipzig das Herz der Revolution war.
Rainer Müller kennt darüber jedes Detail. Gemeinsam stiegen wir 1988 in Abrisshäuser, um eine Bleibe zu finden. Rainer zog dann mit anderen in die Mariannenstraße 46 im Leipziger Osten. Das Haus wurde zum Zentrum des Widerstands. Das Haus wurde zum Zentrum des Widerstands. Peter Wensierski vom Spiegel erzählt von den Rebellen in seinem Tatsachenroman „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“.
Ein Jahr Haft wegen „staatsfeindlicher Hetze“
Leicht war zunächst aber nichts. Im Januar 1989 saß Rainer mit anderen für sechs Tage in U-Haft. Einer unserer älteren Kommilitonen wurde 1981 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu einem Jahr Haft verurteilt, ein anderer saß wegen Wehrdienstverweigerung 20 Monate im Gefängnis. Rainer erzählt von einem Freund, der einen Pkw-Spiegel ruiniert haben soll und dafür ein Jahr einsaß. Es war ein Dienstfahrzeug der Polizei und damit „Widerstand gegen die Staatsgewalt“. Als er wieder rauskam, waren sämtliche Zehennägel weggefault. Er hatte in einem Chemiewerk schuften müssen.
Rainer erzählt solche Geschichten, wenn er Gruppen zu den Schauplätzen der friedlichen Revolution führt. Im dreißigsten Jahr nach dem Mauerfall hat er zu tun. Doch inzwischen sind die Erinnerungen an Unrecht und Repression verblasst. Das Herrische der ehemaligen Stasi-Bezirkszentrale, eine Betonburg mitten in Leipzig, spürt längst nicht mehr jeder.
Stattdessen wuchern Mythen. „Herr Müller, heute müssen wir dem danken, in dessen Namen wir damals unterwegs waren.“ Ein stadtbekannter Kirchenmann hatte Rainer unter den Gästen zum Festakt anlässlich der Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 entdeckt. Als wäre es der Herrgott persönlich gewesen, der die „bewaffneten Organe“ zum Rückzug zwang, nicht die Übermacht der Demonstranten. Ohne die Leipziger Gruppen mit ihrem Netzwerk in andere Städte der DDR und nach Ostmitteleuropa, ohne die Kontakte zu Westjournalisten, die via ARD, ZDF und Deutschlandfunk die DDR-Wohnzimmer mit Informationen versorgten, ohne die Friedensgebete, von Gruppen gestaltet, kein „Wunder von Leipzig“. Erst recht kein Wunder der Kirche.
Kontakte zur Charta 77
Auf dem Büchertisch in der Nikolaikirche liegen die Erinnerungen des damaligen Gemeindepfarrers. „Die Revolution, die aus der Kirche kam“ steht auf dem Deckel. Rainer lacht. Hier in der Kirche haben wir, teils gemeinsam, teils in verschiedenen Gruppen, seit 1987 die Friedensgebete mitgestaltet. Auf der Empore hatte Rainer gegen den Willen des Pfarrers ein Plakat mit der Forderung aufgehängt, Václav Havel freizulassen. Havel war Anfang 1989 wegen „Rowdytums“ verurteilt worden. Am Ende des Jahres wurde der Dramatiker und Dissident in Prag zum Staatspräsidenten gewählt. Unter Havel kamen Leute der Charta 77 in hohe Ämter. Rainer hatte Tschechisch gelernt und Kontakt zu den Dissidenten gehalten. Mit vielen war er persönlich bekannt.
Wenn Rainer darüber spricht, klingt Verwunderung durch. In Prag, nicht in Bonn, wurden Bürgerrechtler zu Gestaltern. Im Grunde endete ihre Ära mit dem Mauerfall. „Helmut, rette uns!“, flehten Demonstranten den Kanzler aus Bonn an, als er kurz vor Weihnachten 1989 in Dresden sprach. Bürgerrechtler, die für Basisdemokratie warben, hatten ausgedient.
Über die Leipziger Montagsdemonstranten ließen Bonner Parteizentralen schwarz-rot-goldene Aufkleber und Flugblätter über die soziale Marktwirtschaft schneien. Neue Akteure schoben sich vor. Im Dezember 1989 meldete sich in Berlin die Physikerin Angela Merkel beim Demokratischen Aufbruch, eine der neuen politischen Gruppen. Gut ein Jahr später wurde sie in Bonn, schon mit CDU-Parteibuch, als Bundesministerin vereidigt.
„Wir waren die Türöffner“
„Wir haben in der Wendezeit die Türöffner gespielt, andere sind hindurchgegangen“, hatte Hans-Jochen Tschiche später bemerkt. Tschiche, einer der profiliertesten Bürgerrechtler, kritisierte den „Runden-Tisch-Komplex“ seiner Bewegung und die Skrupel, im entscheidenden Moment nach der Macht zu greifen. Er selbst tat es als Grünen-Fraktionschef und fädelte 1994 in Sachsen-Anhalt die Minderheitsregierung von SPD und Grünen mit der PDS ein. 2015 ist Tschiche gestorben. Sein Nachlass findet sich im Robert-Havemann-Archiv Berlin, wo inzwischen Akten von über 70 Frauen und Männern der DDR-Opposition lagern, darunter Nachlässe von Bärbel Bohley, Jürgen Fuchs und „Eddi“ Stapel.
Rainer, Jahrgang 1966, ist einer der jüngeren Bürgerrechtler. Er beginnt 1990 Geschichte und Archivwissenschaft zu studieren, wird Vater von vier Kindern, ist bei der Gründung eines Stadtteilvereins und eines Archivs der Bürgerbewegung mit dabei und berät Kriegsdienstverweigerer. Die Wege der Frauen und Männer aus der Mariannenstraße und ihrem Umfeld trennen sich. Eine Rebellin beginnt zu malen, inzwischen hat sie in Florenz und Houston ausgestellt. Einer der Widerständler studiert Jura und gründet eine Anwaltskanzlei. Ein anderer kämpft später gegen Hartz IV. Alle drei studierten einmal am Theologischen Seminar.
Rainer unterzeichnet im Oktober 2015 einen offenen Brief an Angela Merkel. „Wir unterstützen Ihre Politik der offenen Grenzen“, heißt es in dem Schreiben von 47 Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern, das Merkel den Rücken stärkt. Das Presseecho bleibt überschaubar. Die Deutsche Welle und die Leipziger Volkszeitung berichten. Wenn hingegen die einstige Dissidentin Vera Lengsfeld Merkels Flüchtlingspolitik geißelt und vor „illegaler Masseneinwanderung“ warnt, sind ihr Schlagzeilen gewiss. „DDR-Bürgerrechtler auf rechten Abwegen“ heißt es dann.
Bürgerrechtler ohne Lobby
In Wahrheit sind die Bürgerrechtler auf dem Rückzug. Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet im Jubiläumsjahr der Revolution der Bundestag beschloss, die Stasi-Unterlagenbehörde aufzulösen und die Akten ins Bundesarchiv zu überführen. Das dauerhaft zu verhindern, war 1990 eine Kernforderung der Bürgerbewegung.
Das Treffen „DDR-Opposition damals und heute“ verlief, so sagt Rainer, in übersichtlichen Bahnen. Kaum mehr als 20 Frauen und Männer waren erschienen. Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forums und 1994 Kandidat der Bündnisgrünen bei der Wahl des Bundespräsidenten, gab einen Rückblick. Der Ausblick fiel kürzer aus. Ein Bürgerrechtler aus Sachsen erzählte, dass er bei Pegida-Aufmärschen in Dresden regelmäßig ein Plakat hochhalte: „Asyl ist Menschenrecht“. Angegriffen worden sei er bisher noch nicht. Mit 72 Jahren ist er wieder das, was er war – Dissident.
Und Rainer? Er hält die Erinnerung an die Revolution, die unser Land umpflügte, wach. Am 2. November trat er wieder als Zeitzeuge auf, in Brandenburg an der Havel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen