Tory-Parteitag in Großbritannien: „Nicht konservativ“
Beim Jahresparteitag der britischen Tories steht die neue Premierministerin Liz Truss unter Druck. Die Partei steht nicht geschlossen hinter ihr.
Was bedeutet eigentlich konservativ? Das fragen sich viele Mitglieder, nachdem Liz Truss und ihr neuer Finanzminister Kwasi Kwarteng gleich zu Beginn ihrer Amtszeit eine Kehrtwende von der bisherigen Finanzpolitik unter Boris Johnson vollzogen. Kwarteng verkündete massive Steuersenkungen, ohne Gegenfinanzierung – und die Finanzmärkte reagierten panisch auf die Aussicht rapide steigender staatlicher Kreditaufnahme. Zeitweise stürzte das Pfund ab und die Zinsen stiegen rapide an, was Millionen Immobilienkreditnehmer betroffen hat.
„Ich mache mir Sorgen, ob Kwarteng jetzt öffentliche Dienste kürzen wird, um das zu finanzieren“, erzählt Julie Sherwood, die 54-jährige Personalchefin des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS aus der Stadt in King’s Lynn. Für Truss findet sie aber noch positive Worte: „Ich schätze sie als glaubwürdig, sie denkt strategisch mit klarer Vision.“
Das hört man selten in diesen Tagen in Birmingham. Der 25-jährige Joseph Hollingworth aus Streatham im Süden Londons findet harte Worte. „Es scheint sich hier weniger um echte konservative Politik zu handeln, bei der die Gemeinschaft im Mittelpunkt steht, als um eine libertäre Politik, zugeschnitten auf den Individualismus und die freie Marktwirtschaft“, findet er. „Chancengleichheit ist hier zweitrangig.“ Einsparungen im Staatshaushalt dürften nicht auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft gehen. „Meiner Erfahrung nach kostet die Verwaltung oft mehr als die Sozialhilfe, die sie verteilt. Und einen Schuldenberg schaffen, mit dem die zukünftigen Generationen belastet werden, ist ebenfalls nicht konservativ.“ Hollingworth zweifelt, ob er überhaupt noch in der richtigen Partei ist, aber eine Alternative sieht er nicht.
Die Abweichler im Parlament formieren sich
„Nicht konservativ“: Diese Kritik am Kurs von Truss und Kwarteng kommt auch von etablierten Parteigrößen, etwa Michael Gove, von 2010 bis zum Sommer 2022 nahezu ununterbrochen Minister und dann ein Unterstützer von Liz Truss' Rivalen Rishi Sunak im Führungswahlkampf, weswegen er jetzt auf die Hinterbänke verbannt wurde. Medien behaupten, es gebe inzwischen in der konservativen Parlamentsfraktion 15 bis 30 Abweichler, die bei einer Abstimmung über den für den 23. November angesetzten Nachtragshaushalt gegen Truss stimmen würden. Laut dem konservativen Geschäftsführer Jake Berry würden sie dann aus der Fraktion ausgeschlossen werden.
Nicht alle gaben sich kritisch. Truss und Kwarteng begründen ihre Steuerpläne mit der Notwendigkeit, die Wirtschaft anzukurbeln, und finden dafür auch offene Ohren. Ben Bradley, seit 2017 konservativer Wahlkreisabgeordneter für die langjährige Labour-Hochburg Mansfield, sagt der taz: „Wenn Familien gute Arbeitgeber vor Ort haben, mit guten Arbeitsplätzen für sie und ihre Kinder, würde das uns sehr helfen.“ Das Ehepaar Geoff und Linda Mitchell, beides Kommunalvertreter aus Carlisle an der schottischen Grenze, hebt lobend die Investitionen von 450 Millionen Pfund im Rahmen des Aufbauprogramms von Boris Johnson hervor, etwa für eine neue Universitätsklinik.
Doch der Druck auf die Regierung bleibt, und er dominiert diesen Parteitag. Am Montagmorgen kündigte Finanzminister Kwarteng eine Kehrtwende an: Der Spitzensteuersatz von 45 Prozent soll doch nicht kommendes Jahr abgeschafft werden, „da es von unser Mission ablenkt, uns den Herausforderungen unseres Landes zu stellen“, twitterte er: „Wir verstehen es, wir haben (euch) gehört.“ Bei seiner Parteitagsrede kündigte er dann noch für Oktober einen Plan zur Gegenfinanzierung seiner Steuerpläne und eine unabhängige Überprüfung an. Viele jubelten, als er die Folgen seines ursprünglichen Steuerpakets als „kleine Turbulenz“ kleinredete und seine Maßnahmen als Politik beschrieb, aus der alle, „aber wirklich alle“ Vorteile ziehen könnten.
Gemischte Gefühle an der Basis
„Eine ziemlich gute Rede“, urteilt danach Paul Felbeck, 58, aus Dorset. „Sehr gut“, sagt John Blundell, 70, konservativer Parteichef in der Stadt Coventry „Das ist genau das, was wir brauchten.“ Doch Maia Singh, 52, eine Londoner NHS-Angestellte, bleibt enttäuscht. „Kwarteng ließ zwar von den Steuersenkungen für Höchstverdiener ab, mir fehlt jedoch noch vieles.“ Auf Nachfrage nennt sie die Übergewinnsteuer auf Energieunternehmen und die nach wie vor geplante Rücknahme der unter Johnson beschlossenen Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge. „Wie soll das denn alles bezahlt werden?“, fragt sie unzufrieden.
Wichtige Figuren, etwa Expremierminister Boris Johnson oder sein Exfinanzminister Rishi Sunak, der Rivale von Liz Truss bei der Führungswahl im Sommer, sind gar nicht erst zum Parteitag gekommen. Der Vorsitzende der Jungen Konservativen, Daniel Grainger, wurde wieder nach Hause geschickt und aus der Partei suspendiert, nachdem er Birmingham – das mit Andy Street einen konservativen Oberbürgermeister hat – zu Parteitagsbeginn auf sozialen Netzwerken als „Müllkippe“ bezeichnet hatte. Wegen Bahnstreiks konnten Delegierte weder zum Parteitagsauftakt am Wochenende noch zum Abschluss am Mittwoch mit der Bahn von oder nach Birmingham mit dem Zug reisen. Um zu vermeiden, dass Liz Truss vor einer halbleeren Halle spricht, wurden alle Ortsverbände angeschrieben, dass ihre Mitglieder so weit wie möglich versuchen sollten, nicht vor der Rede abzureisen.
„Es war ein schrecklicher Parteitag“, sagt am Mittwoch in einem TV-Interview Lord Vaizey, „eine Mischung von deprimierend und schwarzer Humor.“ In den Umfragen sind die Konservativen im Keller, Liz Truss ist unbeliebter, als es Boris Johnson und Jeremy Corbyn je waren.
Der Delegierte David Abbott aus der Brexit-Hochburg Skegness in Lincolnshire an der Nordsee, sagt aber der taz, er sei für die nächsten Wahlen 2024 zuversichtlich. Die Meinungsumfragen würden ein falsches Bild darstellen. Am Chaos der letzten zwei Wochen seien die Medien schuld und die Zentralbank. Dann will der 67-Jährige der taz noch etwas anvertrauen: „Es hätte nie zu den Rücktritten kommen dürfen. Wissen Sie, es war mir eine Freude, Boris zuzuhören.“ Als sei Truss eine Art Nebenshow, die man halt hinnehmen müsse, und früher war alles besser.
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