Toilettenaktivist zum Weltwassertag: „Scheiße gilt als nicht druckbar“
Jack Sim hat sein Lebensthema gefunden: Toiletten. Zum Weltwassertag erzählt er, wie er das Tabuthema auf die UN-Agenda setzte.
taz: Herr Sim, Toiletten sind nicht gerade das Thema, über das Leute gern reden – Sie tun es ununterbrochen. Wie ist es dazu gekommen?
Jack Sim: Das Thema ist für die Weltbevölkerung von immenser Bedeutung: Alle müssen fünf- bis sechsmal am Tag aufs Klo gehen, es gibt kaum etwas Alltäglicheres. Viele können sich über eine Flasche Wein mehr als fünf Minuten unterhalten, aber was mit dem Inhalt passiert, nachdem sie sie ausgetrunken haben, blenden sie aus. Das ist ein sehr befremdliches menschliches Verhalten. Essen und trinken, pissen und scheißen ist ein Gesamtprozess. Wir sollten uns wohlfühlen mit und in unserem Körper – und wenn wir keine Chance haben, zur Toilette zu gehen, wenn wir müssen, fühlen wir uns schlecht. Hat man erkannt, was wichtig und richtig ist, dann muss man etwas tun. In meinem Fall ist es, immer über Toiletten zu sprechen. Ich möchte einfach nützlich sein.
Sie stammen aus Singapur – ein extrem sauberer Ort, wo das Nichtbetätigen der Klospülung in öffentlichen Toiletten bestraft wird und Aufzüge mit Urindetektoren ausgestattet sind. War das schon in Ihrer Kindheit so?
Nein, ich bin in einem Slum aufgewachsen. In der Zeit der britischen Besatzung lebten alle Singapurer in Holzhütten und nur die Briten in Steinhäusern. Wir hatten einen Eimer als Klo in einer Hütte nebenan. Man musste ein paar Stufen hochgehen und konnte dann durch das Loch auf die Scheiße und die blutverschmierten Binden von all denen schauen, die vorher dort gewesen waren. Würmer krochen dazwischen rum, und es gab Unmengen von sehr großen, grünen Fliegen, die einen die ganze Zeit gestört haben, während man versuchte zu kacken. Das ist ekelhaft, geradezu traumatisierend. Deshalb habe ich immer den Nachttopf benutzt und meine Mutter gebeten, ihn für mich auszuleeren, weil ich einfach nicht da hingehen konnte. 1966 sind wir dann in eine Wohnung aus dem staatlichen Bauprogramm umgezogen, und da hatten wir dann an Wasserklo. Wow, das war super! Wir hatten plötzlich das Gefühl: Jetzt gehören wir zur Ersten Welt.
Ist das der Grund, warum Sie sich beruflich mit dem Thema Toiletten beschäftigt haben?
Nein, ich habe viel, viel später damit angefangen. Ich war ein Schulversager – und ohne Hochschulzulassung gibt dir keiner einen Job. Deshalb ist es das Schlauste, sich selbstständig zu machen. Ich bin Unternehmer geworden, habe Baumaterial aus Deutschland und Frankreich importiert, und das war sehr profitabel. Nach und nach habe ich 16 Unternehmen aufgebaut. Als ich 40 war, habe ich beschlossen, dass ich genug Geld verdient hatte. Dahinter stand die Kalkulation, dass ich etwa die Hälfte meines Lebens hinter mir hatte. Ich wollte mein Leben nicht weiter damit verschwenden, immer mehr Geld zu verdienen – denn ich benötige nicht mehr Geld. Ich brauche einen Platz zum Leben, ich will gut essen und die Hochschulgebühren für meine vier Kinder bezahlen können. Dafür reicht es dicke. Wenn man merkt, dass man genug hat, wird man frei. Ich habe mich selbst gefragt, wie ich mein Leben verbracht haben möchte, wenn ich mit 80 sterbe. Da wurde mir klar, dass ich mich sozial engagieren wollte.
61, hat 2001 die World Toilet Organization (WTO) gegründet. Für sein Engagement erhielt er weltweit zahlreiche Auszeichnungen.
Haben Sie sich für das Klo-Thema entschieden als Folge Ihrer Kindheitserfahrung?
Das würde ich nicht unbedingt sagen. Ich habe mir überlegt, was ich Sinnvolles tun könnte. Ich habe es erst mit Telefonseelsorge probiert, dann habe ich mich ehrenamtlich für den Erhalt historischer Gebäude engagiert. Erst danach habe ich das Thema Toilette entdeckt, und das hat mich dann gepackt.
Wie haben Sie angefangen?
Ich hatte ja keinen Status, keine Ressourcen und keine Macht. Ich habe einfach begonnen, lustige Geschichten zu erzählen. Jedes Thema, das eigentlich tabu ist, wird zur Nachricht, wenn man doch darüber redet. Als wir 2001 angefangen haben, weigerte sich die UN noch, von einem Sanitärproblem zu sprechen; es ging immer nur um sauberes Wasser. Auch die Medien haben nichts darüber berichtet, weil Wissenschaftler von Fäzes-Management gesprochen haben. Kein Journalist kann seine Leserschaft mit solchen Begriffen traktieren, das versteht ja keiner – und Scheiße und Pups gelten als nicht druckbar. Ich habe die WTO gegründet – die Welttoilettenorganisation. Das der Name an eine andere große Organisation erinnert, war durchaus Absicht. Wir haben den 19. November zum Welttoilettentag erklärt und jedes Jahr woanders einen Kongress veranstaltet.
Sie sagen, es gibt weltweit mehr Menschen ohne Zugang zu einem anständigen Klo als Menschen ohne Smartphone. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, das jährlich über 350.000 Kinder aufgrund fehlender Sanitäranlagen sterben. Wie wollen Sie als kleine Nichtregierungsorganisation das ändern?
Man muss immer die passende Geschichte finden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus Indien: Wenn Sie den Leuten sagen, die Verschmutzung des Flusses muss aufhören, werden sie antworten, dass das eine gute Idee ist. Aber sie werden nichts tun. Wenn Sie aber sagen, der Ganges weint, dann werden sie reagieren – der Fluss ist ja eine Göttin und soll nicht leiden. Wenn Sie nach Bangladesch gehen und mit Muslimen sprechen, dann müssen Sie ihnen erklären, dass sie sauber sein müssen, wenn sie fünfmal am Tag zu Allah beten, weil das der Respekt erfordert. Und deshalb müssen auch die Toiletten sauber sein, die sie vorher aufsuchen. Man muss sich immer darauf einstellen, was den Leuten wichtig ist, und wie man sie motivieren kann.
Was zieht Ihrer Erfahrung nach am besten?
Für manche zieht das Jobargument, andere sind persönlich anzusprechen oder auf sozialer oder religiöser Ebene. Was nicht funktioniert, ist zu moralisieren. Auch die Aussage, man muss einen Krieg stoppen, hat noch nie funktioniert. Erst wenn Frieden profitabler ist als Krieg, wird der Krieg aufhören. Man sollte deshalb immer den Punkt finden, wo jemand seinen eigenen Vorteil sieht. Wenn es einen korrupten Politiker gibt, der bereit ist, das Toilettenproblem anzugehen, dann bin ich sehr bereit, mit ihm zu sprechen.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat den Welttoilettentag vor ein paar Jahren einstimmig übernommen – Sie haben nur zwölf Jahre gebraucht, bis Ihre Initiative auf höchster Ebene angekommen war. Wie haben Sie das hingekriegt?
Wenn es einem ausschließlich darum geht, Toiletten zu bauen, dann baut man nur Toiletten. Um eine Bewegung in Gang zu setzen, muss man viele Leute antriggern – Leute, die man oft gar nicht selbst trifft, und sie dazu zu bringen, selbst aktiv zu werden. Wenn Greenpeace sich an irgendwelche Bäume kettet, dann können sie nur zwanzig Bäume unmittelbar retten, aber viel wichtiger ist, dass die Medien das Thema aufgreifen und vielen Menschen klar wird, welche Bedeutung Bäume für uns, unsere Atemluft und das Klima haben. Ich gehe ähnlich vor – und tatsächlich hat sich der Wind inzwischen gedreht. Viele Regierung versuchen, mit dem Thema Wahlen zu gewinnen.
Wasser: Weltweit haben 2,1 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem und durchgängig verfügbarem Trinkwasser – fast ein Drittel der globalen Bevölkerung. Rund 884 Millionen Menschen haben noch nicht mal eine Grundversorgung mit Wasser. Besonders betroffen sind ohnehin diskriminierte Gruppen in ärmeren Ländern – und dort vor allem auf dem Land. Das teilte die Unesco diese Woche in dem jährlichen Weltwasserbericht der Vereinten Nationen mit. Am heutigen 22. März ist Weltwassertag.
Toiletten: Sechs von zehn Menschen haben dem Unesco-Bericht zufolge keinen Zugang zu sicheren Sanitäranlagen. Das sind 4,3 Milliarden Menschen weltweit. Jeder Neunte verrichte seine Notdurft im Freien. (taz)
Mit Toiletten?
Ein Beispiel: Regierungspolitiker wollen die Ausgaben der öffentlichen Krankenversorgung reduzieren und brauchen für den Arbeitsmarkt eine gesunde Bevölkerung. So jemandem rechne ich dann vor, wie teuer die Vorsorge durch anständige Sanitäranlagen wird und was die Schäden durch fehlende Sanitäranlagen kosten. Wenn ich mit dem Leiter eines Shoppingcenters rede, argumentiere ich, dass die Leute länger einkaufen, wenn es gute Klos gibt. Einem Schuldirektor kommt es darauf an, dass sich die Kinder gut konzentrieren können und nicht dauernd an ihre volle Blase denken, weil sie sich verkneifen, aufs Klo zu gehen. Unternehmen, die mit Touristen arbeiten, oder Bahnhofsbetreiber brauchen wieder andere Botschaften.
Wie groß ist Ihre Organisation inzwischen?
Wir sind ein sehr kleines Team von nur vier Leuten, aber das reicht, um weltweite Aktivitäten anzustoßen. Wir haben verstanden, wie man eine Nichtregierungsorganisation gut orchestriert: Der Journalist bekommt eine gute Story, der Politiker will Wahlen gewinnen, der Wissenschaftler möchte publizieren, und der Geldgeber will Anerkennung für seine Investitionen. Diese Aspekte muss man zusammenbinden. Jede Woche erscheinen irgendwo Artikel, und im November zum Welttoilettenkongress noch viel mehr. Den finanziert immer die Regierung aus dem Land, in dem er stattfindet. Dieses Jahr in Mumbai waren 100 Journalisten anwesend.
Gibt das Thema denn dauerhaft so viel her?
Es ging nicht nur um die Konstruktion von Toiletten, die in den Tropen anders aussehen müssen als in Gegenden mit gefrierenden Böden. Auch die Sicherheit von Frauen, die Verschmutzung von Flüssen, die Erzeugung von Biogas, die Nutzung der Hinterlassenschaften als Dünger, Toiletten für Taxi- und Lkw-Fahrer und vieles mehr gehören zur Themenpalette. Seit 18 Jahren erzählen wir Geschichten über Toiletten, und es gibt 3 bis 4 Milliarden Leser pro Jahr – und trotzdem bleibt die Geschichte immer frisch. Das ist so, als ob man seiner Ehefrau immer wieder sagt, dass man sie liebt und sie das auch nach 18 Jahren noch als authentisch empfindet. Authentizität ist sehr wichtig.
Zugang zu Sanitäranlagen ist eines der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, das bis 2030 erreicht sein soll. Glauben Sie, dass das gelingen kann?
Ja, ich denke, dass 95 Prozent zu schaffen sein werden. Entscheidend ist, dass die Regierungschefs in Indien und in China sich an die Spitze gesetzt und Geld dafür bereitgestellt haben. Vor vier Jahren hat der indische Premierminister Narendra Modi ein Programm für 110 Millionen Toiletten aufgelegt, 90 Prozent sind inzwischen gebaut. Jetzt kommt es darauf an, dass die Infrastruktur dauerhaft gepflegt und genutzt wird. Verhaltensänderungen im großen Stil zu erreichen, ist ein längerer Prozess.
Sie produzieren keine Toiletten und verdienen kein Geld damit?
Genau. Manchmal bekommen wir Spenden oder Aufträge wie in China, wo es darum ging, in ländlichen Regionen Schultoiletten zu bauen. In diesem Fall haben wir die Installation und das Training organisiert, damit die Toilettenhäuser dauerhaft sauber bleiben und genutzt werden können. Morgen fliege ich nach Brasilien, eine Telefongesellschaft hat mich für einen Vortrag eingeladen zu einer Veranstaltung über soziale Unternehmensverantwortung. Dafür werde ich bezahlt – mit solchem Geld finanziere ich die WTO-Angestellten.
Sie haben auch Welttoilettencolleges entwickelt. Wer nimmt daran teil, und was lernt man da?
Es gab zum Beispiel ein Training für diejenigen, die in Indien Verstopfungen in der Kanalisation beseitigen müssen. Das sind schreckliche Arbeitsbedingungen, die Leute müssen da reintauchen, und jedes Jahr sterben einige bei diesen Einsätzen. Aufgrund der Faulgase, denen sie dauernd ausgesetzt sind, werden sie aber auch ohne Unfall nicht alt. Wir haben mit der Landesregierung verhandelt, weil die Toilettenreiniger Angst hatten, ihren Job zu verlieren, und als das geklärt war, haben wir ihnen beigebracht, wie sie Maschinen einsetzen können.
Eine Kloweisheit für die Leserschaft in Deutschland zum Schluss?
Es ist wunderbar, wenn man anderen Menschen etwas Gutes tut und dafür immer auch etwas zurückbekommt. Im Grunde verstehen das sehr viele Menschen, aber nur wenige setzen es um. Viele sagen, dass sie irgendwann in der Zukunft aktiv werden wollen, wenn sie genug verdient haben. Aber dieser Tag kommt dann nie – und das ist schade, weil die Leute so viel verpassen. Vor allem Ältere fragen mich oft, warum ich das tue, ohne damit Geld zu verdienen. Bei vielen jüngeren Menschen spüre ich viel Resonanz – hier in Singapur und auch weltweit. Viele haben ein neues Wertesystem, das globaler und sozialer ist und auch fürsorglicher gegenüber der Umwelt. Das ermutigt mich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“