„Tötung auf Verlangen“: Wie mein Onkel sich umbringen ließ
Der Onkel beschließt, dass er nicht mehr leben will. Die Krankheit setzt ihm zu sehr zu. Er entscheidet sich für eine Tötung auf Verlangen.
Die Stimme meiner Mutter zitterte. Es lag nicht an der schlechten Handy-Verbindung hier in den Alpen, das war klar. Ich saß mit meiner Familie in unserem Auto, meine Frau fuhr, es ging auf einer Schweizer Autobahn Richtung Süden in den Urlaub. „Ich muss dir was sagen“, sagte meine Mutter sofort. „Dein Onkel Laurent ist tot.“
Es dauerte einige Momente, bis ich verstand. Laurent war Mitte 80, er war nicht mehr bei bester Gesundheit. Aber so plötzlich? „Er ist freiwillig aus dem Leben geschieden“ – irgendetwas Gestelztes sagte meine Mutter, „Selbstmord“ oder „Suizid“, diese Worte fielen nicht. Er habe eine Todesspritze bekommen, erzählte sie noch, sie sei dabei gewesen.
Meine Mutter ist Belgierin. Onkel Laurent war ein alter Freund, seit den fünfziger Jahren kannte sie ihn. Ihre Lieblingsschwester Marie hat ihn geheiratet. Onkel Laurent war ein außergewöhnlicher Mann. Er litt an Kinderlähmung. Dass er jemals so alt werden würde, hätte früher niemand zu prognostizieren gewagt.
Mit eisernem Willen hat er sich jahrzehntelang durchs Leben geschleppt, immer am Stock. Erst in seinen letzten Jahren fand er sich mit einem Rollstuhl ab. Als Kind faszinierten mich seine klobigen schwarzen Schuhe, die ihm etwas Halt gaben. Gruselig fand ich das metallische Klicken, das immer zu hören war, wenn er seine Beinschienen beim Hinsetzen löste.
Hart zu sich und im Urteil über andere
Onkel Laurent gehörte zu den intelligentesten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Noch im hohen Alter spielte er auf höchstem Niveau Karten, gewann nationale Preise. Hart war er zu sich, oft auch hart im Urteil über andere. Seine Bildung und Belesenheit waren einschüchternd. Ehrgeizig blieb er sein Leben lang, das erwartete er auch von seinen Kindern. Onkel Laurent war ein politischer Kopf, konservativ, etwas machohaft, aber mitfühlend – und am Ende liberal.
Alte Regelung: In Deutschland ist die Tötung auf Verlangen verboten, auch wenn sie ausdrücklich erwünscht ist. Assistierter Suizid ist legal, unklar ist die Rechtslage jedoch bei Organisationen, die einen assistierten Suizid anbieten.
Neue Regelung: Der Bundestag stimmt am 6.11. über Gesetzentwürfe dazu ab. Sie reichen vom Verbot der Beihilfe zum Suizid über ein Verbot jeder organisierten und auf Wiederholung angelegten Beihilfe bis zu einem Verbot der auf Gewinn angelegten Suizidbeihilfe. Eine Gruppe will Ärzten die Beihilfe unter bestimmten Bedingungen erlauben. Der Fraktionszwang ist aufgehoben.
Onkel Laurent war ein Ass in seinem Beruf, in den sechziger, siebziger Jahren ist er reich geworden – er lebte lange Jahre in einer prächtigen Villa. Alles war hell und groß in seinem Haus. Die Wärme darin kam von seiner Frau, meiner Tante Marie. Sie war eine sehr herzliche Frau mit langen Haaren, eine Schönheit mit einem strahlenden Lächeln und einer Intelligenz, die zu zeigen sie sich meist verkniff, aus Demut vielleicht, aus Höflichkeit?
Die Kinder von Marie und Laurent waren schön wie ihre Mutter, intelligent wie sie und Laurent. Alle studierten, bald verdienten die Kinder fast so viel oder sogar mehr als ihr Vater. Vor der Villa stand ein behindertengerechtes Auto, das Laurent viel Mobilität gab. Autonomie war Onkel Laurent immer sehr wichtig – er trotzte sie seinem Körper ab, solange es ging.
Das Leben war schön für Onkel Laurent. Bald kamen Enkelkinder in die Familie. Als Pensionär arbeitete er ehrenamtlich in einer Telefon-Krisenberatung. Psychologisches hat ihn immer sehr interessiert, Schönheit noch mehr, in der Literatur, in der Musik, auch bei den Frauen, solange sie klug waren.
Die Tante stirbt
So wie Tante Marie. Sie rauchte sehr viel – irgendwann wurde bei ihr Lungenkrebs diagnostiziert. Sie kämpfte ein paar Jahre gegen die Krankheit an, dann starb sie im Kreis der Familie. Ihr Körper wurde verbrannt, ihre Asche soll Onkel Laurent im kleinen Garten ihres neuen Haus gestreut haben, genau hat er es nie erzählt.
Den barrierefreien kleinen Bungalow hatten sich Marie und Laurent gekauft, als die Kinder nach ihrem Studium die große Villa endgültig verlassen hatten. Das einstöckige neue Häuschen schien immer lichtdurchflutet zu sein, an den Wänden hing viel moderne Kunst.
Laurent hat den Tod seiner Frau nie richtig verwunden. Manchmal rief er meine Mutter an und sagte: „Ich könnte schreien vor Einsamkeit.“ Aber er riss sich zusammen und lebte weiter. Auch wenn das Leben immer härter wurde für ihn. Er brauchte zunehmend Hilfe für alles, seine Mobilität nahm ab, die Toilettengänge wurden mühsamer und peinlicher.
Ein paar Monate vor seinem Tod kam Onkel Laurent ins Krankenhaus – zunächst schien es eine Routinesache zu sein, irgendein Abszess am Darmausgang. Onkel Laurent wurde operiert, doch die Heilung verzögerte sich, es gab Rückschläge. Nach ein paar Wochen konnte er wieder nach Hause, aber die Aussichten verdüsterten sich. Es sei wahrscheinlich, so hieß es, dass er einen künstlichen Darmausgang brauche. Das hat ihn sehr belastet.
Immer Schmerzen
Spätestens in dieser Zeit fasste Laurent einen Entschluss: Er wollte sich töten lassen. Onkel Laurent hatte eine existenzialistische Auffassung vom Leben, er war wohl am ehesten Agnostiker, vielleicht auch Atheist. Schon früher hatte er gegenüber meiner Mutter angedeutet, dass er seinem Leben ein Ende setzen könnte, wenn das Leid zu groß werde. Seine Frau Marie sagte meiner Mutter einmal, Laurent habe immer Schmerzen, wohl eine Folge seiner Krankheit.
In Belgien sind die Gesetze für „aktive Sterbehilfe“, „assistierten Suizid“ oder „Tötung auf Verlangen“ liberal – oder welches Wort man auch dafür wählen will. Die Folge: Seit Inkrafttreten des Gesetzes vor 13 Jahren verlangen die Menschen immer häufiger „Tötung auf Verlangen“, die radikalste Form der ärztlichen Lebensverkürzung. Zählte man 2003 nur 235 solcher Fälle, so waren es zehn Jahre später über 1.800. Durchschnittlich fünf Menschen pro Tag scheiden in Belgien freiwillig aus dem Leben.
Es gibt in Belgien Regeln für die „Tötung auf Verlangen“. Es ist eher fraglich, ob sich mein Onkel Laurent daran gehalten hat. Zweifel sind angebracht, ob er die Frist gewahrt hat, die zwischen dem Bekunden des Todeswunsches und der Todesspritze liegen muss.
Einiges spricht auch dafür, dass er sich nicht in einer medizinisch aussichtslosen Lage befand, was Voraussetzung für diese Sterbeform in Belgien ist. Doch wie ernst wird das Kriterium noch genommen? Im Herbst vergangenen Jahres wurde dem verurteilten Vergewaltiger Frank van den Bleeken „Sterbehilfe“ erlaubt, weil er „unerträgliche psychische Qualen“ erleide.
Altersgrenze aufgehoben
Im Februar 2014 ging der belgische Staat noch einen Schritt weiter – als erstes Land weltweit: Nach langen Debatten im Parlament wurde die Altersgrenze im „Sterbehilfe“-Gesetz aufgehoben. Nun ist es möglich, auch unheilbar kranken Kindern „Sterbehilfe“ zu gewähren. Laut Umfragen sind rund drei Viertel der Belgier dafür.
Onkel Laurent offenbarte seinen Kindern erst wenige Tage vor der geplanten Tötung von seinem Plan. Zwei von ihnen versuchten vergeblich, ihn davon abzubringen. Irgendwann, so erzählte es meine Mutter, blockte er einfach ab: Die Entscheidung sei gefallen – fini!
Was seinen Entschluss noch dramatischer machte: Er bat Verwandte und Freunde, ihn in seiner letzten Stunde zu begleiten – ich wurde nicht informiert. So kamen vor ein paar Monaten rund ein Dutzend seiner Angehörigen in seinem Haus zusammen. Sein Krankenbett war ins Wohnzimmer mit Blick in den Garten geschoben worden – das erzählte meine Mutter später. Um Laurent herum saßen seine Lieben. Mein Onkel war angezogen, er saß aufrecht in seinem Bett, große Kissen in seinem Rücken stützten ihn.
Laurent bedankte sich, dass alle gekommen seien. Jemand hatte den Kamin angemacht. Seine Lieblings-CD lief. Er ließ Champagner ausschenken. Einer seiner Söhne erlitt einen Weinkrampf und verließ das Zimmer. Manche sagten noch etwas. Es herrschte aber vor allem Sprachlosigkeit, Beklemmung. Laurent erklärte, er habe ein gutes Leben gehabt, aber nun habe er genug. Er wünschte allen noch ein schönes Leben.
Die Spritze wurde angesetzt
Dann traten eine ihm bekannte Ärztin und ein weiterer Arzt an sein Bett, dieses Gespräch war kaum noch zu verstehen. Meine Mutter bekam mit, dass sie ihn fragten, ob er wirklich diesen Schritt tun wolle. Er bejahte es. Die Spritze wurde angesetzt an seine Hand, wo noch ein Zugang von der letzten Operation vorhanden war. Dann wurden die tödlichen Substanzen injiziert. Sie wirkten innerhalb von wenigen Augenblicken. Der Oberkörper krampfte sich zusammen, er fiel nach vorn, jemand sprang auf und lehnte Onkel Laurent auf seine Kissen zurück. Es ging alles so schnell. Innerhalb der nächsten Stunde war der Leichenwagen da, um seinen leblosen Körper mitzunehmen.
Es war ein Schock für alle. Meine Mutter sagte später, das alles zu erleben sei für sie unerträglich schmerzhaft gewesen, diese Hilflosigkeit! Sie habe sich gefühlt wie bei einer Hinrichtung. Das ist ein Grund, weshalb es mir schwerfällt, den Tod meines Onkels zu betrauern – der Schock über seine Todesart überdeckt alles.
Laurents Leiche wurde verbrannt, seine Urne im Kreis der Familie beerdigt. Ein paar Wochen nach der Tötung luden die Kinder von Laurent zu einer Gedenkfeier in dessen Haus – dort, wo er gestorben war. Das Wetter war prächtig, die Enkelkinder sprangen durch den Garten, es gab guten Wein, Kaffee, Canapés. Natürlich wurde auch gelacht.
Es gab keine Rede von Laurents Kindern, nichts, was auf den Grund des Zusammenkommens hingedeutet hätte. Darüber zu reden, was hier passiert war und warum, glich beinahe einem Tabu. Wahrscheinlich war es auch zu schmerzhaft. Das ungeheure Geschehen in diesem Haus wurde nur im Zwiegespräch erwähnt, beim Durchblättern alter Fotoalben, die überall auf den Tischen lagen.
Ich stand mit einem Cousin auf der kleinen Terrasse. Er erzählte mir, auch seine todkranke Lebensgefährtin habe sich vor ein paar Monaten mit ärztlicher Hilfe töten lassen. Ihm schossen Tränen in die Augen, er lächelte unsicher und nickte. Ganz außergewöhnlich schien diese Geschichte nicht zu sein.
Alle Namen sind geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs