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Todestag von Semra ErtanIm Feuer

Gastkommentar von Gürsel Yıldırım

An ihrem 25. Geburtstag hat sich Lyrikerin Semra Ertan 1982 in Hamburg wegen des wachsenden Rassismus selbst verbrannt. Ein Ort des Gedenkens fehlt.

Nur improvisiertes Gedenken ist möglich: Erinnerungen an Semra Ertan in St. Pauli im Mai 2021 Foto: Gürsel Yıldırım

D ienstag, 25. Mai 1982. Semra Ertan ruft beim NDR an und erzählt von ihrem geplanten Fanal. Die Öffentlichkeit soll davon erfahren. Eine Journalistin des Rundfunks, Marli Wulf, trifft sich mit ihr. Zehn Tage später berichtet Wulf über das Treffen:

„Nach dem Anruf war ich sofort in die Hamburger Innenstadt gefahren. Semra Ertan wollte – das hatte sie im NDR angekündigt – mit einem Hungerstreik auf sich aufmerksam machen. Sie wollte sich dort mit Benzin übergießen und verbrennen. Sie wollte auf diese schreckliche Weise auf ihre eigene Not und auf das Elend ihrer türkischen Landsleute aufmerksam machen. Sie wollte die Öffentlichkeit herausfordern“ (Deutsches Allgemeines Sonntagblatt, 6. Juni 1982).

Zu dieser Zeit lebt Semra Ertan bereits seit zehn Jahren in der BRD. Sie war als 15-jähriges Mädchen im Frühjahr 1972 aus Mersin zu ihren Eltern nach Kiel gekommen, „um einen Beruf zu erlernen“. Sie will Technische Zeichnerin werden.

Ihr Schulabschluss in der Türkei ist gut. Aber den deutschen Behörden reicht das nicht.Für die Arbeitnehmer_innen und ihre Kinder aus den Anwerbeländern sieht der strikt nach ethnisch-rassistischen Kriterien organisierte Arbeitsmarkt nur eine fremdbestimmt zugewiesene Stelle, nicht ihre gewünschte berufliche Perspektive vor.

Mit jugendlichem Elan war Semra Ertan in Kiel angekommen. Dort ist sie bald mit der deutschen Realität konfrontiert. Anstatt in ihrem gewünschten Beruf beginnt sie eine Lehre als Friseurin, die sie aufgrund gesundheitlicher Probleme abbrechen muss. Infolge eingeschränkter Handlungsfähigkeiten aufgrund von ausländerrechtlichen Hürden, die Semras Potenzial blockieren, wird sie im Laufe der Zeit nervenkrank.

Gürsel Yıldırım

54, Soziologe, ist Aktivist der Hamburger Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı, Mitbegründer der Initiative zur Aufklärung des Mordes an Süleyman Taşköprü und der Initiative zum Gedenken an Semra Ertan.

Sie leidet an den Vorurteilen und Misshandlungen vieler Deutscher. Sie erlebt ihre Situation in dem gegenüber „Fremden“ feindlich gesinnten Umfeld als hoffnungslos. Sie unternimmt Selbstmordversuche – und erfährt weitere Erniedrigungen: Von einem Arzt in Kiel, der ihr wiederholt den Magen auspumpt, hört sie lediglich den Ratschlag, beim nächsten Mal doch von der Holtenauer Hochbrücke zu springen.

Von ihrem schriftstellerischen Potenzial kann sie nicht leben. Sie bemüht sich um eine berufliche Perspektive, um ökonomische Unabhängigkeit und Emanzipation, aber einen Beruf findet sie nicht.

Kurz vor ihrer Selbstverbrennung beginnt Semra Ertan einen Hungerstreik, um auf die Situation von Türk_innen in der BRD aufmerksam zu machen. Das ist der Grund, weshalb Marli Wulf sie für die „Umschau am Abend“ interviewt. Das Gespräch wird am 26. Mai 1982 ausgestrahlt, da liegt sie schon im Sterben. Eine Mitschrift:

Marli Wulf: Warum bist du nach Hamburg gekommen?

Semra Ertan: In Kiel habe ich mit dem Hungerstreik angefangen, weil keiner auf mich gehört hat. Keiner kommt und will mein Stimme hören lassen.

Marli Wulf: Dir geht es darum, deine Stimme hören zu lassen. Du willst einen Hungerstreik anfangen. Warum?

Semra Ertan: Ja, damit die deutschen Behörden das hören. Vielleicht können sie hinterher ein bisschen besser gutmütig sein. Dann können sie vielleicht sagen: Na ja, dann können wir wenigstens zu anderen nicht so schlecht sein. Wenigstens sollen wir hier nicht wie Hunde behandelt werden, von den Deutschen. Ich möchte richtig wie ein Mensch behandelt sein.

Marli Wulf: Und was wolltest du heute eigentlich noch tun?

Semra Ertan: Ja, ich wollte mich umbringen zwischen so vielen Leuten. Dass sie wenigstens ein bisschen überlegen. 1961 habt ihr gesagt, herzlich willkommen, Gastarbeiter! Aber nur für unsere Kraft. Wenn wir alle zurückkehren würden, wer würde die schmutzige Arbeit machen?

Die Tat

Mittwochmorgen, 26. Mai 1982, Semra Ertans Geburtstag: 25 Jahre wird sie alt. Es ist 5.15 Uhr. Semre Ertan übergießt sich an der Kreuzung Simon-von-Utrecht-Straße/Detlef-Bremer-Straße in Hamburg St. Pauli mit Benzin, das sie kurz zuvor an einer Tankstelle in einen Kanister gefüllt hat.

Sie zündet sich an.

Per Zufall entdeckt eine Polizeistreife die brennende Frau, erstickt die Flammen. Sie kommt ins Hafenkrankenhaus, wird dann in die Klinik Boberg verlegt, wo sie zwei Tage später ihren Verletzungen erliegt.

In türkischen Medien wird der Fall mit großer Sorge kommentiert. Alle Tageszeitungen von der linken Cumhuriyet über Hürriyet bis zur rechten Tercüman berichten. Cumhuriyet-Kolumnist Oktay Akbal schreibt in einem Beitrag vom 5. Juni 1982, der den Titel „Warum lebe ich?“ trägt: „Semra war eine sehr aufgeklärte, intelligente und belesene junge Frau, aber sie konnte ihren Platz nicht finden.“

Gedenken und Gedichte

Der Band „Mein Name ist Ausländer | Benim Adım Yabancı“ mit Gedichten von Semra Ertan in deutscher und türkischer Sprache ist bei der Edition Assemblage erschienen, 240 S., 18 Euro

Gedenkveranstaltung in Hamburg: Sa, 29. 5., 14 Uhr, Simon-von-Utrecht-/Detlev-Bremer-Str., ab 15 Uhr Arrivati-Park und per Radio beim Freien Sender Kombinat ab 14 Uhr

Der Artikel weicht dank Arbeit mit den Originalquellen von den kursierenden Darstellungen anderer Medien und insbesondere der derzeitigen Chronologie der deutschen und der türkischen Wikipedia-Einträge ab.

Über ihr Fanal schreibt er: „Dies ist eine bewusste Handlung. Nachdem sie tagelang nachgedacht und der deutschen Öffentlichkeit über das Radio die Gründe erklärt hatte, unternahm eine aufgeklärte junge Frau eine schreckliche Tat.

Eine bewusste Handlung – so bewusst, dass sie eine Reporterin des Hamburger Rundfunks engagierte (NDR), um mit ihr über das Thema Ausländerfeindlichkeit zu diskutieren.“ Die links-liberale Milliyet titelt am 3. Juni 1982 mit einem zweisprachigen Aufruf an die deutsche Politik und Gesellschaft, notwendige Schritte gegen die Ausländerfeindlichkeit zu unternehmen.

Nicht nur Milliyet berichtet darüber, dass der Tod Semras ein dramatischer Protest gegen die Erniedrigung der etwa 1,5 Millionen Türken war, die in der BRD lebten. Im Kontext der angespannten Beziehungen zwischen Bonn und Ankara werden die rassistischen Zustände in Deutschland zu einem außenpolitischen Thema.

Helmut Schmidts Beitrag

Während die deutschen Politiker über Ausländer als Problem diskutieren, wird Semra Ertans Beerdigung in Mersin in der Türkei vorbereitet. „Sie wird heute nach Hause gebracht.“ – heißt es in einem Bericht von Ulya Üçer vom 3. Juli 1982. Semra Ertan wird am 4. Juli in Mersin beigesetzt.

Vor der Beerdigung gibt Semras Vater Gani Bilir eine Erklärung fürs Fernsehen ab, die auch in den Zeitungen ausführlich zitiert wird, so auch in der Cumhuriyet-Ausgabe vom 6. Juni: „Für diesen Todesfall gibt es viele Gründe. Nachdem Bundeskanzler Schmidt etwa 10 bis 15 Tage vor ihrem Tod erklärte, dass sich Ausländer entweder einbürgern oder aber in ihr Land zurückkehren sollten, fühlten sich deutsche Jugendliche ermutigt, [Ausländer] anzugreifen. Die Nachrichten über diese Angriffe machten meine Tochter sehr traurig. Am 25. Mai verschwand sie; am 26. hatte sie Geburtstag. Ihre Mutter hatte den Tisch gedeckt. Wir haben nach Semra gesucht und konnten sie nicht finden. Später kam die Polizei und sagte, dass meine Tochter in Hamburg verbrannt [vorgefunden] wurde. Als wir in Hamburg ankamen, war meine Tochter tot.“

Semras Schwester wird ebenfalls zitiert: „Semra ist ein typisches Beispiel für die ‚zweite Generation‘, die in Deutschland häufig erwähnt wird. Sie kann weder in der deutschen noch in der türkischen Gesellschaft einen Platz finden.“ Cana Bilir-Meier, eine Nichte von Semra Ertan, hat 2013 in dem Film „Notizen zu Semra Ertan“ die bewegenden Bilder gezeigt: Semra Ertans Sarg und die trauernden Menschen.

Über Semra Ertan hörte ich das erste Mal im Oktober 1985 von Günter Wallraff, als er sein Buch „Ganz Unten“ in Darmstadt vorstellte. Als wir aus der zweiten Generation seiner Lesung lauschten, wusste ich nicht, dass Semra Ertans Gedichte veröffentlicht worden waren. Als Angehörige der zweiten Generation fand Semra Ertan keinen Anschluss an die Gesellschaft.

Dass sie durch die Dominanzgesellschaft nicht als ein Subjekt mit ihrer menschlichen Würde anerkannt, sondern zu einem eingeschränkten und defizitären Objekt herabgewürdigt wurde, konnte sie nicht ertragen.

Dass die Einwanderer, als billige Arbeitskräfte und als Konjunkturpuffer für die deutsche Wirtschaft genutzt, zu „Eindringlingen“ degradiert wurden, machte sie traurig und wütend. Als politisch denkende Frau und Künstlerin erlebte sie Deutschland als ein feindliches Hinterland. Sie gehört einer Generation von Migrant_innen aus der Türkei an, die sich oft fühlen, als wären sie als „unbrauchbare Menschen nach Deutschland verkauft“, nur Devisenbringer für „das Vaterland“.

In einer der Ton-Kassetten, die wir damals um die Mitte der 1980er-Jahre als zurückgelassene Kinder anstelle von Briefen aus Deutschland bekamen, schildert meine Mutter, Yeter Yıldırım, die Situation in Deutschland ähnlich: „Wir leben hier wie die Stiefkinder, weit weg von (der) Heimat.“ In ihrem Gedicht „Benim Adım Yabancı“, „Mein Name ist Ausländer“, spiegelt Semra Ertan das Leben Hunderttausender ihrer Generation.

Sie war ihren Zeitgenoss_innen um einiges voraus, fand in den kollektiven Politikformen und künstlerischen Aktivitäten der Migrant_innen aus der Türkei, die sich im Wesentlichen auf „Exilpolitik“ beschränkten, kaum Platz.

Sie gehörte zu den Marginalisierten unter den Marginalisierten. Dazu schreibt sie bereits im Februar 1977: „Erst später werden sie es schätzen / Deren Wert. / Dann werde ich /Allen unbekannt / In weiter Ferne sein.“

Ein Platz für unsere Blumen

Als die ‚Initiative zu Gedenken an Ramazan Avcı‘ im Jahre 2010 gegründet wurde, wurde bei den jährlichen Gedenkkundgebungen auf dem Ramazan-Avcı-Platz auch an Semra erinnert. Mit der Gründung der „Initiative in Gedenken an Semra Ertan“ wurde sie in Hamburg präsent.

Die Initiative wurde zusammen mit ihrer Schwester Zühal Bilir Meier und ihrer Nichte Cana-Bilir-Meier vor drei Jahren gegründet. Die Forderung: einen Platz oder eine Straße in St. Pauli in Semra-Ertan-Straße/Platz umzubenennen, bleibt bislang unerhört.

Mit den Erinnerungs- und Gedenkinitiativen, die den Blick auf die zahlreichen rassistischen Nazimorde richten, entsteht ein Bewusstsein dafür, wie wichtig es ist, nicht nur an die Mordopfer zu erinnern, sondern auch daran, dass durch rassistische Hetze Menschen in den Tod getrieben werden.

Wir brauchen einen Ort, wo wir unsere Blumen hinlegen können.

Hinweis: Wenn Sie Suizidgedanken haben, suchen Sie Hilfe! Rund um die Uhr ist die Telefonseelsorge unter08 00-111 01 11 oder0800-111 02 22 zu erreichen

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