Tiere des Jahres: Allerweltsart in Not

Die Tiere des Jahres sind mehr als nur die Summe aus kuriosen Kurzmeldungen. Sie erinnern an die gefährdete Biodiversität.

Nahaufnahme einer Zauneidechse

Zauneidechse im Terrarium Foto: dpa

Kennen Sie den Grünen Zipfelfalter? Den Schwarzblauen Ölkäfer? Die Nase – nein, nicht die laufende, sondern die schwimmende? Allen drei Arten gemeinsam ist ihre Würdigung als Schmetterling/Insekt/Fisch des Jahres 2020. Als unterhaltsame Meldung schafft es das eine oder andere dieser Jahreswesen immer mal wieder in überregionale Medien, mitunter auch in diese Zeitung.

Das ist letztlich der Hauptgrund für die etwas inflationär anmutenden Auszeichnungen. Allein für die heimische Natur listet der Naturschutzbund Deutschland NABU inzwischen 34 dieser Schlaglichter auf, die sogar das versteckteste „Höhlentier des Jahres“ (die Mauerassel) mal ausleuchten.

Darüber lässt sich leicht launig feuilletonieren, zur Finger-Scharlachflechte (Flechte des Jahres) oder zum Dinoflagellaten (Einzeller des Jahres) gehen immer ein paar flockige Zeilen, die sich beim Frühstücksbrötchen locker weglesen. Damit haben sie eine wesentliche Aufgabe dann auch erfüllt, selbst wenn die jeweiligen Fachexperten sich über die Nominierung zuvor monatelang erbitterte Gefechte geliefert und Feindschaften fürs Leben geschlossen haben.

Man kann aber auch genauer hinschauen. Zum Beispiel beim Reptil des Jahres 2020, der Zauneidechse.

Imaginierte deutsche Überregulierung

Das kleine Kriechtier trägt das Unspektakuläre bereits im Namen. Das sind halt die Eidechsen, die sich an jedem Zaun in der Sonne fläzen. Aber kleiner Selbsttest: Wann haben Sie das letzte Mal eine Eidechse auf einem Zaun entlang des Weges gesehen?

Den meisten Insassen dieses Landes dürfte die Zauneidechse erheblich häufiger in den Medien begegnen als vor der Tür. Als „Hürde für den neuen Stadtteil in Frankfurt“ (Frankfurter Rundschau), weil sie „den Kita-Bau verzögern“ (Badische Zeitung), „die Bagger stoppen“ (Nordbayern.de), oder schlicht als „Wahnsinn“ (extra 3), wenn teure Umsiedlungsaktionen ergriffen werden – nur einige von Dutzenden Meldungen der letzten Wochen. Die ist die reptilgewordene Allegorie auf die imaginierte deutsche Überregulierung, Fortschrittsfeindlichkeit und Bürokratie.

Vom Kabarett bis zum Bierzelt, sobald ihr Name fällt, ist konsenssuppiges Kopfschütteln und Schenkelklopfen garantiert. Verrückt, wir Deutschen, dass wir für so ein alltägliches Tierchen den neuen Supermarkt mehrere Monate später eröffnen! Beim Bahn-Ausbau rund um Stuttgart 21 verursachen die Reptilien Kosten von ein paartausend Euro pro beschupptem Kopf, da schauen selbst Grüne indigniert, und neues Unheil kündigt sich bereits an, weil auch das Brandenburger Tesla-Gigagelände über vierbeinige Ureinwohner verfügt.

Kaum sind die Eidechsen für zig Millionen Euro mühsam auf neue Flächen umgesiedelt, verhungern sie dort, weil niemand bedacht hat, dass das hübsche Ausgleichsbiotop über keinen Wildpflanzenbewuchs verfügt, der eine gedeihliche Insektenpopulation stützt, oder freilaufende Katzen aus der benachbarten Einfamilienhaussiedlung schlagen sich dankbar den Bauch voll mit den lustigen 5.000-Euro-Snacks.

Wenn aber Artenschützer darauf hinweisen, dass es womöglich eine gute Idee wäre, diese hoch effizienten Räuber auch deshalb lieber an die Leine zu nehmen oder in der Wohnung zu belassen, ist die Aufregung groß: Das ist doch schließlich Natur, wenn ein von Menschen in absurden Populationsdichten ausgesetzter und mit veterinärmedizinischer Homebase ausgestatteter Prädator die letzten Flecken leerräumt, die nicht zuvor durch verdichtete Besiedlung oder von Pflanzenschutzmitteln vom industriell bestellten Acker nebenan in eine ökologische Wüste verwandelt worden sind.

Die Zauneidechse verschwindet trotz ihrer scheinbaren Omnipräsenz auf den geplanten Baustellen und in den empörten Kommentaren des Landes in verblüffendem Tempo. Bundesweit wird die ehemalige Allerweltsart in der Vorwarnstufe der Roten Liste geführt, in den nördlichen Bundesländern ist sie teils schon als „gefährdet“ oder „stark gefährdet“ eingestuft.

Artenschutz in a Nutshell – gut, dass die Jahrestier-Designierung den Fokus darauf richtet.

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