Tiere und Pflanzen des Jahres: Immer auch politisch

Wenn Phänomene aus der Natur gesellschaftlich gedeutet werden, wird es schnell ungut. Die Tiere und Pflanzen des Jahres sind zum Glück fortschrittlicher.

Der Kleine Wasserfrosch

Der Kleine Wasserfrosch ist ein glitschiger Affront gegen den Identitätsquatsch Foto: imago

Wollen wir wirklich Witze darüber machen, dass ausgerechnet das Braunkehlchen der deutsche „Vogel des Jahres 2023“ geworden ist? Oder gar historische Analogien ziehen, weil es bei einer freien, demokratischen Wahl ohne jede Not dazu gekürt wurde? Natur ist schließlich immer auch politisch. Vom notwendigen Kampf gegen invasive Arten landet man schnell beim Blut-und-Boden-Denken à la AfD, von der Kritik an der Klimaschädlichkeit des Reisesektors bei der gruseligen „Urlaub in der Heimat“-Propaganda von Winfried Kretschmann und Konsorten.

Deswegen wollen wir lieber loben, dass das Braunkehlchen ein echter Globalist ist, denn es reist nicht nur regelmäßig weit und interkontinental und stellt mit seinem wiederkehrenden Drang nach der Ferne eine ideale Metapher für ein menschliches Grundbedürfnis dar, sondern es schenkt uns zudem via dem auslobenden Nabu das schöne Wort „Langstreckenzieher“. Die ehemals kalte Jahreszeit verbringen diese eher unauffälligen und, nun ja, braunen Vögelchen im tropischen Afrika.

Stark gefährdet sind sie, Ehrensache, natürlich auch, und zwar nicht wegen Windrädern, sondern vor allem aufgrund der hiesigen Lebensraumzerstörung sowie unserer industrialisierten Landwirtschaft – regionaler Anbau allein nutzt halt auch nichts.

Gar nicht metaphorisch, sondern ganz praktisch für die Vielgestaltigkeit des prallen Lebens steht der „Lurch des Jahres“, der Kleine Wasserfrosch. Er ist ein glitschiger Affront gegen den ganzen Identitätsquatsch alter wie neuer Schule, ob von rechts oder links. Dann wollen wir doch mal zeigen, wo der Frosch die Rastalocken hat: Der Jahreslurch nämlich fällt durch fortwährende, nicht nur kulturelle, sondern auch genetische Aneignung auf – als Lebenselexier!

Generation Quiet Quitting

Kurz gesagt, auch wenn es vermutlich Prügel der ausrufenden Deutschen Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde für diese Vereinfachung gibt: Er steht in einem unfassbar komplizierten Chromosomen-Austausch mit zwei anderen, ähnlich aussehenden Arten. Er und der Seefrosch sind sozusagen die Eltern des Teichfroschs, der sich zwar eine Weile lang auch selbstständig vermehren kann, auf Dauer aber immer wieder neues Erbmaterial von den Elternarten einpaaren muss. Hybridogenese heißt dieses unter Landwirbeltieren ziemlich einzigartige Gimmick. Ach ja, und bedroht ist er natürlich auch. Same procedure as everywhere: Lebensraumzerstörung und industrielle Landwirtschaft vorneweg.

Wir spoilern daher nicht, wenn wir verraten, dass diese beiden Faktoren auch dem von der Deutschen Wildtier-Stiftung bestimmten „Wildtier des Jahres“ den Garaus zu machen drohen, nebst zu sehr aufgeräumten Wäldern und – natürlich! – frei herumlaufenden Katzen. Und das, obwohl der Gartenschläfer eigentlich eher wie eine moderne menschliche Wunschprojektion erscheint. Das mauseartige Tierchen ist ein kuscheliger Traum der Generation Quiet Quitting: Satte sechs Monate verschläft dieser Bilch komplett, und den Rest des Jahres hält er sich strikt an die vertraglich vereinbarte nächtliche Kern­arbeitszeit. Da stimmt die Work-Life-Balance!

Den Wert von Zusammenhalt und Gemeinschaft beschwört – semantisch ein hübsches Paradoxon – ausgerechnet der „Einzeller des Jahres“. Freuen Sie sich mit dem Grünen Gallertkugeltierchen zu seiner Auszeichnung durch die Deutsche Gesellschaft für Protozoologie! Obwohl ein waschechter Mikroorganismus, rottet das Mini-Wesen mit dem bezaubernden Namen sich so massenhaft zusammen, dass man es mit bloßem Auge erspähen kann – es wabert in bis zu 15 Zentimeter großen Kolonien durch unsere Seen.

Ein Braunkehlchen

Das Braunkehlchen ein echter Globalist Foto: imago

Aber keine Sorge, wenn Sie den grünen Wabbel sichten: Sein Auftreten zeugt von guter Wasserqualität. Und kündet außerdem von der Utopie eines friedlichen Zusammenlebens. Nicht nur, dass dieses vasenförmige Wimperntierchen in direkter Symbiose mit einer Grünalge lebt, seine Kolonien bieten auch ein Zuhause für allerlei andere Einzeller, Algen und sogar Süßwasserpolypen, denn jedes einzelne Grüne Gallertkugeltierchen bildet eine „gallertige Wohnröhre“, die dann halt von anderen besiedelt werden kann. In einer Zeit ausgeprägter Wohnungsnot also eine durch und durch konsequente Wahl.

Die Salamanderpest

Ein Trend, auf den auch der Verband der Deutschen Höhlen- und Karstforscher aufgesprungen ist. Denn sein „Höhlentier des Jahres“ ist der Feuersalamander, den man ja eigentlich eher als Buchenwaldbewohner kennt. Doch auch er muss irgendwo wohnen, und das macht er bevorzugt in unterirdischen Höhlen, in die er sich bei Trockenheit oder Frost zurückzieht. Dass seine Zukunft düster aussieht, liegt allerdings weder am Wohnort noch an Wohnungsnot, sondern an einer Pandemie. Die Salamanderpest breitet sich seit einigen Jahren in Deutschland aus, und gegen sie erscheint Corona tatsächlich nur wie ein Schnupfen. Mit einer Sterblichkeit von hundert Prozent löscht die Seuche Feuersalamanderpopulation um Feuersalamanderpopulation aus, sodass Salamanderforschende davon ausgehen, dass die vorerst einzige Rettung der Tiere nicht in Höhlen, sondern in menschlicher Obhut liegt.

Ein Feuersalamander

Der Feuersalamander wird von der Salamanderpest bedroht Foto: imago

Wenn das zu deprimierend ist, empfehlen wir abschließend noch die eingehendere Beschäftigung mit der „Heilpflanze des Jahres“. Angesichts von Krieg, Blackout-Gefahr, Klima- und Biodiversitätskrise ist es ein wirklich kluger Schachzug des „Vereins zur Förderung der naturgemäßen Heilweise nach Theoprastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus e. V.“, die Weinrebe dazu auszuerwählen. „Die Natur ist der Arzt“, lautet dessen Wahlspruch, und in diesem Sinne wünschen auch wir: Prosit Neujahr!

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