Thomas Mann-Ausstellung in Lübeck: Ein Mann voller Brüche
Lübeck ehrt seinen Nobelpreisträger Thomas Mann mit der Ausstellung „Meine Zeit“. Sie zeigt den Wandel des Schriftstellers zum Demokraten.
Zwei Nobelpreisträger stammen aus Lübeck, was für ein Schatz. Willy Brandt wird 1971 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, Thomas Mann erhält bereits 1929 den Literaturnobelpreis, ausdrücklich für „Die Buddenbrooks“. Dieser „als Familien-Saga verkleidete Gesellschaftsroman“, so Mann über seinen Erstling, machte den am 6. Juni 1875 Geborenen mit Mitte 20 berühmt – und Lübeck zu einem Ort der Weltliteratur.
Das Geburtshaus der Schriftstellerbrüder Heinrich und Thomas Mann in der Breiten Straße 38 brannte 1942 ab. Eine Marmorstele markiert heute die Stelle. Das weitgehend zerstörte Haus der Großeltern Mann in der Mengstraße, Schauplatz der „Buddenbrooks“, wurde hingegen wiedererrichtet und 1993 zum Museum. Doch dieses „Buddenbrookhaus“ ist seit 2019 wegen Umbaus geschlossen, voraussichtlich wird es erst 2030 wiedereröffnet. Wie schon 2024 die Ausstellung zum 100. Erscheinungsjahr von Manns „Der Zauberberg“ ist nun auch „Meine Zeit. Thomas Mann und die Demokratie“ zum 150. Geburtstag des Schriftstellers im St.-Annen-Museum zu sehen.
Caren Heuer, Leiterin des „heimatlosen“ Buddenbrookhauses und Kuratorin der Ausstellung, sagt, dass zunächst eine Reinszenierung der Mann’schen Romanwelten geplant gewesen sei. Doch im März 2024 hätten sie umgesteuert. Als Leitfaden dient nun Thomas Manns Rede „Meine Zeit“, 1950 in Chicago gehalten. Darin berichtet er von den zahlreichen historischen Übergängen, die er erlebte, und weiß: „Immer bleibt es gewagt, auf die besondere historische Ergiebigkeit der eigenen Lebensspanne sich etwas zugute zu tun, denn immer kann es noch bunter kommen, immer kommt es noch bunter.“
Ungewöhnliche politische Wende
Wie wahr. Und so wandelt sich Manns politische Position von den kriegsbejahenden „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) zu den BBC-Radioansprachen an die „Deutschen Hörer“ im nationalsozialistischen Deutschland (1940–45) grundlegend: „Ich hätte nicht leben, nicht arbeiten können, ich wäre erstickt, ohne von Zeit zu Zeit meinem unergründlichen Abscheu vor dem, was zu Hause in elenden Worten und elenderen Taten geschah, unverhohlenen Ausdruck zu geben.“ Caren Heuer erläutert: „Mich interessieren die Brüche bei Thomas Mann, die Ambivalenzen. Der Mann ist Mitte 40, als er sich politisch um 180 Grad verändert, was untypisch ist für seine Herkunft, sein Geschlecht und seine Generation – und deshalb faszinierend.“
Gleichheit, Freiheit, Menschenwürde, Pressefreiheit, freie und geheime Wahlen und Meinungsfreiheit – diese sechs Elemente demokratischer Herrschaft verdeutlicht die Ausstellung anhand chronologisch dargebotener Mann-Zitate.
Sie beginnt 1893 mit einem Faksimile des „Frühlingssturm“, der Schülerzeitung mit ersten Schreibübungen des Lübecker Gymnasiasten. Textpassagen aus Manns Schriften und Interviews sind ebenso unterhaltsam wie informativ arrangiert, zum Teil in riesigen Lettern, auch kann man seiner Stimme an einem Radiogerät lauschen.
In Lübeck erklärt sich Thomas Mann selbst, die Ausstellung verlässt sich also voll auf seine Perspektive. Zwar sind in Vitrinen die Erstausgaben seiner großen Romane zu sehen, doch liegt der Fokus auf „Thomas Manns politischen Zeitenwenden hin zu einem überzeugten Demokraten“, wie Heuer betont. Die Ermordung Walther Rathenaus 1922, so das Deutungsangebot, habe Mann politisch wachgerüttelt.
Der Sohn aus wohlhabender Kaufmannsfamilie habe „die Bügelfalte zum Kunstprinzip erhoben“, ätzte sein Schriftstellerkollege Alfred Döblin. Doch „Meine Zeit“ verdeutlicht gerade, wie unergiebig der alleinige Verweis auf Manns privilegierte Herkunft ist. Der Germanist Heinrich Detering schreibt im ausgezeichneten Katalog, politischer Vielklang und demokratische Performanz hätten das gesamte Lebenswerk Thomas Manns imprägniert: „Sooft in diesen Romanen Figuren das Wort ergreifen, die autoritären, ja totalitären Utopien und Dystopien anhängen, so entschieden setzt sich im unablässigen Perspektiven- und Wortwechsel die Polyphonie des Erzählens gegen sie durch.“
bis 18. 1. 2026, St.-Annen-Museum, Lübeck
Der Katalog zur Ausstellung ist bei Königshausen & Neumann erschienen (212 S., 26 Euro)
Infos: www.mann2025.de
Mann verdeutlicht also die offene Gesellschaft – gegen den Willen seiner Figuren selbst. Konsequent entlässt die klug komponierte Ausstellung, die aktuelle Thomas-Mann-Renaissance bereichernd, die Besucher mit einem „Zauberberg“-Satz: „Der Mensch lebt nicht nur sein persönliches Leben als Einzelwesen, sondern, bewusst oder unbewusst, auch das seiner Epoche und Zeitgenossenschaft.“
Es gereicht dem Lübecker Kaufmannsgeist zur Ehre, dass Niederegger dem „hochgezüchteten Marzipan-Mann“ (Theodor Lessing) eine Dose mit Mann-Konterfei anbietet. So ist der Weltliterat dank der gelungenen Ausstellung und dem Naschwerk in aller Munde, wenngleich er in seiner Vaterstadt noch auf Jahre unbehaust bleibt.
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