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„Stress entzieht der Intelligenz die Energie“

Was hilft gegen Stress? Die Einstellung ändern! Klingt einfach – ist es auch, sagt Expertin Michaele Kundermann. Dumm nur, dass wir so gern am Drama festhalten

Nicht Situationen bringen uns in Stress, sondern wir selbst Foto: Frank Herfort/plainpicture

Interview Franziska Seyboldt

taz am wochenende: Frau Kundermann, dass Stress krank und unglücklich macht, ist bekannt. Warum eilen die meisten von uns trotzdem hektisch durch den Alltag?

Michaele Kundermann: Der Stressmodus ist ein wichtiges Überlebenswerkzeug mit sehr erfolgreichen Strategien: fliehen, kämpfen oder erstarren. Das funktioniert auch wunderbar bei physischen Bedrohungen. Wenn ich Sie jetzt aber frage, wie oft Sie im letzten Monat in Lebensgefahr waren …

In Lebensgefahr? Gar nicht.

Dann dürften Sie theoretisch nicht ein Mal im Stress gewesen sein. Aber heutzutage entsteht Stress in den befriedeten und wohlhabenden Ländern zu 99 Prozent nicht durch physische, sondern durch emotionale Bedrohungen. Vielleicht waren die in der Evolution gar nicht vorgesehen, jedenfalls reagiert das Gehirn auf den nervigen Chef genauso wie auf den Angriff eines Säbelzahntigers. Und das ist, als würde man mit einem Hammer eine Uhr reparieren wollen.

Was ist denn das richtige Werkzeug bei emotionalen Bedrohungen?

Zunächst müssen wir uns bewusst machen, dass wir uns diese Bedrohungen selbst schaffen – durch meist unbewusste Gedanken. Der Thalamus, unser Wahrnehmungsfilter, entscheidet, welche Informationen so wichtig sind, dass sie an das Bewusste weitergeleitet werden. Und woher weiß er, was mir gerade wichtig ist? Er schaut sich an, was ich denke. Wenn ich mir morgens sage: Oh Gott, das wird ein schlimmer Tag, dann denkt der Thalamus: Aha, sie will also erfahren, dass heute ein schlimmer Tag ist. Und dann lässt er alle Erfahrungen in mein Bewusstsein, die das bestätigen.

Das klingt, als wäre Stress in 99 Prozent der Fälle selbst gemacht. Aber was ist, wenn ich einfach wahnsinnig viel zu tun habe?

Wir glauben zwar gern, dass uns bestimmte Situationen in Stress bringen, aber es ist nicht die Situation. Es ist unsere Antwort auf die Situation. Sobald wir etwas ablehnen, wertet unser Gehirn das als Bedrohung, und Bedrohung ist das Signal, das so sicher wie die Schwerkraft Stress aktiviert. Wenn Sie sich morgens zur Arbeit schleppen und sagen: Pfff, schon wieder Montag, dann wird auf einmal Ihr ganzer Arbeitsplatz zu einer Bedrohung.

Und wie kommt man da wieder raus?

Indem man seine Gedanken umdefiniert – den Widerstand in das Annehmen. Sich sagt: Ich habe diese Arbeit gewählt, damit habe ich auch allen Widrigkeiten zugestimmt, die mit dieser Tätigkeit verbunden sind. Wenn ich das nicht mehr will, dann muss ich das eben ändern. Man sollte immer in der Verantwortung bleiben. Wenn man sich in einen passiven Widerstand begibt, setzt man sein Nervensystem einer permanenten Hintergrundbedrohung aus.

In Ihrem Buch zitieren Sie den US-Schriftsteller Napoleon Hill, der empfahl, beim Auftauchen eines Fehlers unverzüglich zu behaupten: „Das ist gut!“ Das wirkt einigermaßen absurd, wenn man gerade Mist gebaut hat.

Zunächst vielleicht schon, aber wenn wir unsere Gedanken ändern, dann verändern sich auch die Neurotransmitter im Blut. Wir haben in unserem Nervensystem zwei neuronale Bereiche, ich nenne sie Panikum- und Heurekum-Autobahn. Panikum symbolisiert den Stress und alles, was damit verbunden ist, Heurekum den sogenannten Flow, die Zuversicht, das kreative Wohlbefinden. Wenn wir auf der neuronalen Panikum-Autobahn unterwegs sind, werden frühere Erfahrungen getriggert, die Stress in uns ausgelöst haben. Auf der Herurekum-Autobahn hingegen wird unser Selbstvertrauen bestätigt, wir sehen plötzlich Möglichkeiten und Chancen, die wir vorher gar nicht gesehen haben. Je nachdem, auf welcher Autobahn wir unterwegs sind, verändern sich die Hirnströme. Die fließen tatsächlich in eine andere Richtung.

Man muss also nur die innere Einstellung ändern? Das klingt einfach.

Ist es auch! Wir müssen eigentlich nur erkennen, wo wir den Fehler machen. Wenn ich von Frankfurt nach Hamburg will, aber Richtung München fahre, wird es sehr schwer sein, in Hamburg anzukommen. Wenn ich mich aber um 180 Grad drehe, klappt es. Wir können nicht auf beiden Autobahnen gleichzeitig unterwegs sein – wenn wir die Heurekum-Autobahn aktivieren, hemmt sie unsere Panikum-Autobahn. Und andersherum. Dass das Umdenken oft eine Herausforderung ist, liegt daran, dass wir am Zweifel festhalten. An Schuldgefühlen, am Drama. Aber auch an alten, ungelösten emotionalen Konflikten, die wir noch mit uns herumschleppen.

Was sind das für emotionale Altlasten?

Das wird schon in der frühen Kindheit geprägt. Etwa wenn wir hinfallen und die Eltern schimpfen: „Du hast deine Hose schon wieder dreckig gemacht!“, anstatt uns in den Arm zu nehmen und zu trösten. Das Kind in seinem emotionalen Schreck scheint nicht so wichtig wie die Hose zu sein. Oder wenn die Eltern emotionale Botschaften vermitteln, die sich widersprechen, also uns im einen Moment zeigen, dass sie uns lieben, im anderen, dass sie uns ablehnen. Das kann ein Kind überhaupt nicht verstehen. Es entstehen massive Unsicherheiten über den eigenen Wert, die als Information im Nervensystem stecken bleiben. Wenn diese ungelösten Konflikte im Alltag getriggert werden, aktiviert unser gereiztes Nervensystem sehr schnell den Stressmodus.

Wer von den Eltern bedingungslos geliebt wird, hat also später gute Chancen, in stressigen Situationen entspannt zu bleiben?

Ja. Diese Menschen erhalten eine ganz andere Grundlage in ihrem Nervensystem, sie gehen gelassener und resilienter durchs Leben, weil sie wissen, dass jemand hinter ihnen steht. Und zwar eindeutig. Das bedeutet nicht, dass Eltern ihren Kindern keine Grenzen setzen dürfen – im Gegenteil, das ist enorm wichtig für deren Entwicklung. Aber entscheidend ist, dass die Liebe dabei gewahrt wird und das Kind sich bedingungslos angenommen fühlt, auch wenn es etwas angestellt hat.

Eine Umfrage unter meinen Kolleginnen und Kollegen ergab, dass ein großer Stressfaktor die schlechte Laune der Mitmenschen ist. Wie kann man sich davor schützen?

Schlechte Laune anderer hat die Tendenz, uns über Spiegelneuronen mit in den Schlamassel hineinzuziehen. Hier geht es um die Entscheidung: Bin ich dafür zuständig oder nicht? Grenze ich mich ab oder lasse ich das in mich rein? Bereits als Kinder versuchen wir unbewusst, unsere Eltern aufzumuntern, wenn es ihnen schlecht geht, dabei ist ein Kind nicht dafür zuständig, für das Wohlbefinden der Eltern zu sorgen. Haben wir das als Kind gelernt, glauben wir aber, dass wir alle Menschen aufheitern müssen. Damit bürden wir uns eine Verantwortung auf, die viel zu hoch ist. Es ist nicht meine Verantwortung, dafür zu sorgen, wie es jemand anderem geht. Es ist einzig meine Verantwortung, dafür zu sorgen, wie es mir geht.

Das klingt fast ein bisschen egoistisch.

Wenn sich jemand neben mir in einer gefährlichen Notlage befindet, muss ich natürlich für ihn sorgen. Aber viele benutzen ihre schlechte Laune auch als manipulatives Instrument, um ihre Energielücken aufzufüllen und verlagern ihre Verantwortung nach außen. Wenn das der Fall ist, sollte man sich lieber schleunigst entfernen.

Und wenn das nicht geht?

Dann kann man sich immer noch abgrenzen und sagen: „Du, ich möchte jetzt gar nicht über XY herziehen. Das tut mir nicht gut.“ Wenn die andere Person unbedingt schlecht drauf sein will, dann muss ich ihr das zugestehen. Dann braucht sie diese Erfahrung eben für irgendwas.

Ein weiterer Stressfaktor: Multitasking. Wenn ich unter großem Zeitdruck stehe und drei Menschen gleichzeitig was von mir wollen, bekomme ich manchmal sogar ein Blackout.

Ja, das ist dann die höchste Form des Stresses. Und das Blackout bekommen Sie, weil das Blut aus dem Stirnhirn, wo Sie steuern, bewusste Entscheidungen treffen und Lebensfreude und Selbstwirksamkeit aktivieren, nach hinten in den Hirnstamm schießt. Dort soll es die Reflexe bedienen – fliehen, kämpfen, erstarren – und dann können Sie nicht mehr klar denken. So können die intelligentesten Leute bei einer Prüfung vollkommen durchsausen, obwohl sie alles wissen, weil sie blutarm in der Stirn sind.

Das heißt, Stress macht dumm.

Könnte man sagen. Oder besser: Er entzieht der Intelligenz die Energie. Denn er macht ja nicht dauerhaft dumm, sondern nur in diesem Moment. Da gibt es einen kleinen Trick: Man kann die Hand auf die Stirn legen, dadurch zieht man das Blut wieder nach vorne. Das ist übrigens auch ein unbewusster Reflex, den viele von uns haben, wenn sie was vergessen haben. Tatsache ist außerdem, dass im Stressmodus die Intuition verloren geht, dabei brauchen wir die dringend.

Wofür?

Wir kommen permanent in neue Situationen, treffen auf neue Menschen, für die wir keine Erfahrungen abgespeichert haben. Um die adäquat wahrzunehmen und passend darauf zu reagieren, braucht es Intuition. Im Stressmodus handelt unser Gehirn aber aus alten Mustern heraus, es setzt quasi eine Schablone auf die äußere Situation. Man könnte sagen: Die Stressschleife ist ein Gefängnis unseres Gehirns. Wir können neue Dinge weniger wahrnehmen, sondern wiederholen permanent die Vergangenheit.

Ich habe einen Backenzahn, der immer dann anfängt zu schmerzen, wenn ich in Stress gerate. Wie kann das denn sein?

Die Entzündung ist ja ein Kampf im Körper. Eigentlich soll ein Kampf nach außen gerichtet stattfinden, wenn ich im Stressmodus bin. Aber wenn ich zum Beispiel nicht Nein sagen kann, obwohl ich es fühle, dann muss das irgendwo anders hin, und dann wendet es sich nach innen und kann sich in chronischen Entzündungen äußern.

Kann man dem entgegenwirken, indem man den Kampf nach außen verlagert? Zum Beispiel durch Sport?

Wenn man bereits in den Stress reingeraten ist, ja. Manchmal brauchen wir zwei, drei Tage, bis die Stresshormone wieder abgebaut sind. Die eine Möglichkeit ist Schlaf und Ruhen, die andere ist Sport. Aber auf jeden Fall: Die Gedanken ändern und nicht dauernd noch weiteren Stress aufbauen. Denn unsere Gedanken erzeugen die Emotionen, und die Emotionen bewegen den Körper. Für diese Gedanken brauchen wir Disziplin. Das ist die Verantwortung jedes Einzelnen, das kann niemand für uns tun, nur wir selbst.

michaele-kundermann.com

Michaele Kundermann ist Expertin für die Psychologie der Emotionen und arbeitet als Therapeutin, Coach, Rednerin und Trainerin. Ihr Buch „Emotionale Stresskompetenz – Die Kunst der Selbstberuhigung“ ist 2018 im Goldegg Verlag erschienen.

Klingt nach Arbeit.

Stellen Sie sich das Leben als Schiff vor. Es gibt ein Steuerrad und zwei Matrosen. Der eine Matrose ist unser Verstand, der andere unser Gefühl. Wer gehört jetzt ans Steuer? Bei den meisten Menschen ist der Verstand am Steuer und die Emotionen liegen besoffen in der Ecke. Aber ans Steuer gehöre doch ich! Die beiden Matrosen sind meine Ressourcen, denen muss ich vernünftige Aufträge geben. Das ist mein Job. Wenn ich am Steuer stehe, bedeutet das eben, Verantwortung zu übernehmen. Es scheint unheimlich einfach, Situationen oder Menschen die Verantwortung für meine Gefühle zu geben, aber damit übergebe ich ihnen auch die Macht.

Warum steht gerade der Verstand bei den meisten von uns am Steuer?

Weil wir viele emotional unangenehme Erfahrungen abgespeichert haben, die meistens in der Kindheit entstanden sind. Irgendwann sagt der Verstand: „Hör mal, das mit deinen Gefühlen ist viel zu schmerzhaft, wir schneiden die einfach ab. Und wenn du deine Emotionen vermisst, dann simuliere ich sie dir.“ Wenn ich in meinen Beratungen frage, was jemand fühlt, bekomme ich oft die Antwort: „Ich denke, ich fühle …“ Aber man kann nicht denken, wie man sich fühlt. Man kann es nur im Körper fühlen.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es gerade in Deutschland sehr hoch angesehen ist, die Gefühle unter Kontrolle zu haben – auch wegen der Kriegsvergangenheit. Aber das führt uns eigentlich gar nicht weiter, oder?

Genau, das führt noch mehr ins Drama. Emotionen sind ja nur Botschaften, und zwar antwortende Botschaften auf die Qualität meiner Gedanken. Wenn ich ständig denke: Ich schaffe das nicht, dann antworten meine Emotionen mit Energieverlust und vielleicht Bauchschmerzen. Mein Verstand denkt, die Emotionen seien das Problem, und er versucht, diese zu kontrollieren. Dann werden die aber nur noch wilder, denn sie müssen mir ja eine Botschaft überbringen. Der Verstand kapiert dabei nicht, dass er die emotionale Antwort selbst ausgelöst hat.

Wie geht man denn dann am besten mit unliebsamen Emotionen um?

Wenn sie schon da sind, ist es gut, sie einfach als Botschaft anzunehmen, auch wenn man sie nicht immer sofort versteht. Aha, diese Wut will mir etwas sagen, vielen Dank dafür. Wenn ich Ihnen eine Botschaft bringen möchte, aber Sie hören mich nicht, dann werde ich ein bisschen lauter reden. Wenn Sie mich immer noch nicht hören, werde ich schreien. Und wenn Sie mich immer noch nicht hören, dann werde ich Sie rütteln und schütteln. Aber in dem Moment, in dem Sie die Botschaft angenommen haben, werde ich ruhig – so auch die Emotionen. Denn der Botschafter hält seinen Mund, wenn er die Botschaft überbracht hat.

Das heißt, man kann es schaffen, sich nicht von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen, wenn man sie denn rechtzeitig bemerkt.

Ich nenne diese Gefühle „emotionale Welle“. Die geht durch den Körper und möchte mich zu einer Handlung bewegen – vielleicht wegzurennen oder alles kurz und klein zu hauen. Ich kann diese emotionale Welle aber auch einfach beobachten, annehmen und hören, was sie zu sagen hat. Wenn ich etwa wütend bin, ist dem vorher meistens ein Ohnmachtsgefühl vorausgegangen. Dann kann ich Mitgefühl mit mir entwickeln, dass das so in mir entstanden ist. In dem Moment habe ich einen Teil der Botschaft verstanden: Ich habe sie empfangen, angenommen und sie kann abebben, wie eine Welle.

Also auch da wieder: Verantwortung übernehmen.

Ja, nur Sie können Ihr Leben in die Hand nehmen. Wir haben einen Körper mit unglaublich vielen Möglichkeiten. Wir haben den Stressmodus, um unser Überleben zu sichern, wir haben Emotionen, wir haben Verstand, wir haben Herz – aber das sind alles Instrumente, und wir müssen lernen, sie zu bedienen, anstatt uns unbewusst von ihnen bedienen zu lassen. Selbstberuhigung ist ein wichtiger Schritt in die Bereitschaft, diese Verantwortung zu übernehmen.

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