Theaterstück „Die Laborantin“: Im Optimierungswahn

In Ella Roads „Die Laborantin“ entscheidet das Erbgut über das persönliche Vorankommen. Das Staatstheater Oldenburg bringt das Stück die Bühne.

Eine Frau mit Schürze und Reagenzgläsern.

Am Anfang liebes‑­glücklich: Laborantin Bea (Zainab Alsawah) und Aaron (Fabian Kulp) Foto: Mario Dirks

Es ist ein dystopisches Szenario und doch erschreckend gegenwärtig: Eine Gesellschaft im Optimierungswahn, die mit genetischen Informationen spielt, ja: dealt, als handelte es sich dabei um gewinnbringende Immobilien. Eine Menschheit, in der Erbgutabweichungen nicht mehr vorkommen dürfen und in der die postnatale Abortion – man kann auch Tötung von Neugeborenen dazu sagen – eine denkbare Möglichkeit ist. In so einer Zukunft siedelt Ella Road „Die Laborantin“ an.

Es ist das Debütstück der jungen britischen Autorin, die auch selbst Schauspielerin ist. Im Jahr 2018 war „Die Laborantin“ für die Olivier-Awards nominiert und wurde im Hampstead Theatre in London uraufgeführt. Die deutschsprachige Erstaufführung fand Ende Mai als Online-Premiere am Schauspiel Dresden statt. Erstmals auf die analoge Bühne gebracht hat Regisseurin Jana Polasek das Stück nun am ­Oldenburgischen Staatstheater.

Der Originaltitel „The Phlebotomist“ – Phlebotomie heißt Aderlass – weist deutlicher darauf hin, dass nicht irgendwelche Labortätigkeiten im Fokus stehen. Sondern eben jene, die den „ganz besonderen Saft“ untersuchen: Mittels Blutproben lässt sich das menschliche Erbgut analysieren, sind nicht nur diagnostische, sondern auch prognostische Gentests möglich. Bea, die Protagonistin, arbeitet in einer Klinik für Humangenetik. Für deren Pa­ti­en­t*in­nen wird das Ergebnis des Bluttests als Ranking festgehalten: auf einer Skala von 1 bis 10.

„Ratism“ nennt Road das Phänomen, das sie in ihrem Stück entscheiden lässt: über das Gelingen von Beziehungen, Karriere und Familienplanung. Denn die Diagnose Low- oder High-Rater bestimmt den weiteren Lebenslauf. Letztlich also auch, ob Bea in der Dating-App überhaupt noch attraktive Matchings bekommt, einen Hausbau-Kredit bei der Bank – oder ihre Freundin Char den begehrten, gut bezahlten Job. Eine einzige Zahl entscheidet über das Weiterkommen im Leben und damit vermeintlich auch über Glück, Liebe und Erfolg.

Nächste Vorstellung: Mi, 16. 6., 20 Uhr, alle Infos: www.staatstheater.de, Trailer: https://youtu.be/IBJFJsVoNLs

Die Dresdener Inszenierung wird am 19. 6. um 19.30 Uhr wieder gestreamt: https://dringeblieben.de/videos/die-laborantin-4

Zainab Alsawah verkörpert die Figur der Bea meist beherrscht und kontrolliert. Als bei Char (Veronique Coubard) nur ein Ranking von 2 errechnet wird, sie für eine Bewerbung aber ein deutlich höheres braucht, lässt sich die Laborantin zum Betrug überreden: „Okay, ich hab’ heute Morgen eine 7,7 getestet – wie wär’s damit?“ Aus ihrem Zugang zu Reagenzgläsern und Daten erschafft sich Bea bald einen äußerst lukrativen Nebenjob. Und sie verliebt sie sich in Aaron (Fabian Kulp) – Ranking 8,9. Für Bea scheint das Leben perfekt. Wären da nicht die flüchtigen Skrupel und das dünne Gelöbnis, mit den Blut-Deals aufzuhören. Aber wo eine Nachfrage ist, ist auch ein Markt.

Jana Polasek inszeniert das Drama auf einer puristischen, fast steril hellen Bühne: Martina Stefan hat einen cremefarbenen Zylinder mit Umlauf entworfen, der sich auf- und zudrehen lässt wie ein Schraubverschluss. In seinem Kern findet sich die Andeutung eines Wohnzimmers, davor werden alle anderen Räume behauptet: eine Bar, ein Labor, ein Krankenhausflur. Immer wieder werden Live-Videos auf die konvexen Außenflächen der Bühne projiziert.

So entsteht eine ästhetische Setzung und – trotz der Corona-Abstandsregeln – spielerische Nähe zwischen den Dar­stel­le­r*in­nen. Da ist Aaron in Großaufnahme ganz nah und präsent, wenn Bea ihm das erste Mal begegnet. Und da stehen beide schwindelnd auf einem wolkenverhangenen Berggipfel, rennen an einem heiteren Sommertag über den Strand; oder Aaron flippert zwischen blinkenden Spielautomaten.

Vor allem Fabian Kulp mit seinen an die Stummfilm-Ära erinnernden, schwarz umschminkten Augen erscheint oft als riesenhafte Projektion – gerade so, als wolle die Regisseurin die Lupe draufhalten auf diese Figur, die doch angeblich die perfekte Partie zu sein scheint. Und tatsächlich birgt dieser charmante Lebemann genau jene Abgründe, die Beas Leben erschüttern. Sie, die wissenschaftliche Laborantin, hat ihr Glück nach Zahlen und Ratings ausgerichtet. Aaron, mit seinem angeblichen Spitzen-Rating, passt da nur zu gut in ihre Lebensplanung. Als der High-Rater dann als schizophrener Schwindler auffliegt, ist Bea bereits hochschwanger. „Du bist ein Cocktail aus Dreck“, fährt sie ihn an.

Das lachende Liebesglück hat sich da schon lange in Luft aufgelöst. Sowieso hat das Leben für Bea – von Alsawah ein bisschen zu unentschieden zwischen rational und romantisch angelegt – wenig mit Glück oder Schicksal zu tun, sondern mit kühler Berechnung. Erst am Ende, als sie zur Rating-Diagnose ihres Babys aufgerufen wird, bleibt sie minutenlang regungslos sitzen, hin und her gerissen zwischen Herz und Verstand.

Mit gelungenen Video-Einspielungen, mit flirrenden Zahlen, futuristischen Forschungsfakten und natürlich auch mit der allzu vertrauten Alexa-Stimme baut Polasek das Kammerspiel recht distanziert als schnell getaktete Szenenfolge. Ästhetisch gelingt dabei eine überzeugend kühle Atmosphäre, auf schauspielerischer und inszenatorischer Ebene wirkt Polasek aber oft unentschlossen und ungenau, schwankt zwischen psychologischer Figurenzeichnung und strenger Form. Ruhepol der Inszenierung ist Thomas Birklein: Als mysteriöse Laborratte verkleidet, tritt er unvermittelt auf und wieder ab, äußert Weisheiten über die Liebe und das Leben. Ruhig und wie nebenbei spricht er davon, dass jenes nicht zu makellos, rund und perfekt sein darf. Er macht das lässig und ganz ohne Moral und gibt gerade mit dieser kuriosen Unbekümmertheit der Inszenierung etwas inhaltliches Gewicht.

Denn trotz aller dem Text immanenten Aktualitätsbezüge zu Tests, Impfungen und Pandemiemaßnahmen, zum viel diskutierten Klassismus oder der ethischen Verantwortung der Wissenschaft: Der sehr konventionellen Inszenierung gelingt keine klare Aussage – und leider auch kein Bogen zur Gegenwart.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.