Theater auf dem Dorf: Geprobt wird im Kuhstall
Seit zehn Jahren bespielen Thomas Matschoß und Anja Imig einen Hof in Wettenbostel – mit selbst geschriebenen Dramen von ernst bis albern
Raus aufs Land, hinein ins Retro-Glück analogen Daseins. Mitten in der Lüneburger Heide, Landkreis Uelzen, Wettenbostel. Äußerste Schwarte des Hamburger Speckgürtels. 1295 gegründet, so lautet die Inschrift eines Monsterkieselsteins an der Haltestelle des Busses, der dort für die rund 50 Bewohner allerdings nur auf telefonische Voranmeldung hält.
Aber im Sommer ist Schluss mit der dörflichen Ruhe. Seit zehn Jahren nutzt das „Jahrmarkttheater“ den idyllischen Hof von Ergotherapeutin Maria Krewet als Freilichtbühne. Da muss dann die Freiwillige Feuerwehr anreisen und die Autos von 250 Besuchern auf eine abgesperrte Wiese lenken. Sie strömen schon eine Stunde vor Aufführungsbeginn mit Picknickdecke und -korb aufs Festivalgelände. Käse- und Vorspeisenplatten werden arrangiert, Weine verköstigt. Manchmal ist auch nur eine Dose mit Erdnüssen, ein Glas mit Oliven, eine Tupperdose mit Kuchenresten oder Schwarzbrotstullen geöffnet. Als Dessert und Verdauungsspaziergang in einem funktioniert dann das Theater.
Picknicktheater
Jeder Besucher bekommt mit der Eintrittskarte einen Klappstuhl, mit dem von Spielort zu Spielort gewandert werden kann. Bei kurzfristigen Regenstörungen wird einfach zur Strohballenbühne der Reithalle weitergezogen. Zwischendurch wird auch mal zum Kaiserwalzer gebeten – große Tanzpause auf dem Voltigiergelände. Der Abend endet in kuscheliger Runde am Lagerfeuer.
„Der schönste Tag, oder die Erfindung der Liebe, Teil 1“ ist noch am Wochenende vom 26./27.8. um 19.30 Uhr zu erleben.
„Zebraline von der Insel" läuft Sa/So, 26./27.8., 15 Uhr.
Spielort ist das Open-Air-Theater Wettenbostel, Wettenbostel 3.
Weitere Infos und Kartenvorbestellungen gibt's online unter www.jahrmarkttheater.de
Das zeremonienmeisterliche Jahrmarkttheater wird als GbR geleitet vom Regisseur, Autor und Schauspieler Thomas Matschoß und seiner Frau Anja Imig, die Bühnen- und Kostümbildnerin ist. 2005 tauschten sie Hamburgs Hektik gegen die Ruhe der Heide-Dörflichkeit. Ihre Heimat ist nun etwa 30 Autominuten von Wettenbostel entfernt: Bostelwiebeck. Dort haben sich Imigs Eltern einen Schweinstall als Altersruhesitz hergerichtet, der Pferdestall wird als Lager genutzt, zur Probebühne und zum Theater für die Wintersaison ausgebaut ist der Kuhstall und der Heuboden nun Fundus hunderter Kostüme. Plus WG-Bereich.
Schauspieler und Techniker wohnen dort während der sechswöchigen Probephasen und Aufführungswochenenden. Das formidable Ensemble mit dem Mut zum Übermut setzt sich großenteils aus Absolventen der Hamburg School of Entertainment zusammen, wo Matschoß einst Schauspiellehrer war und Musicaldarsteller für die Abendunterhaltung auf den „Aida“-Kreuzfahrtschiffen und in Corny Littmanns Schmidt-Imperium ausgebildet hat.
Zur Jubiläumsspielzeit gestalten die Theatermacher das Schmausen der Gäste besonders angenehm. „Der schönste Tag oder Die Erfindung der Liebe“ wird inszeniert und beginnt mit einem Hochzeitsfest. Also nehmen die Besucher Platz an Festtafeln vor der Scheune, in der sich die Künstlergarderobe versteckt. Vier Spiegel und ein paar Quadratmeter zum Umziehen reichen dem 14-köpfigen Ensemble. Ihr Buffet ist bestückt mit Kaffee, Wasser und Nudelsalatresten. Im Hochzeitsornat mischen sich die Mimen unters Picknickvolk, begrüßen und herzen als wären es Verwandte. Andere jazzen Dinner-Musik.
Bis auf einem kleinen Podest die Peinlichkeiten beginnen: Partyspiele, Festreden, erste Eheknatscherei und Recycling uralter Scheidungsdramen – gewürzt mit Comedy-Humor über Zweisamkeitstristesse und entsorgte Sexualität. Matschoß entwickelt sein Stück aus dem Vorwurfssumpf enttäuschter und verblasster Liebe. In Siine Behrens hat er eine ideale Schauspielerin gefunden. Als Braut agiert sie genau auf der Bruchlinie des Textes. Droht zu zerreißen zwischen zwei Liebeskonzepten – für den älteren Mann, der ihr Herz glühen lässt, und den Jüngling, den sie heiratet. Behauptet feines Seelenkammerspiel im großen Open-Air-Kontext.
Die gesamte Szenenfolge bezieht sich auf Shakespeare, setzt poesiewillig auf Worte der wahren Empfindung, geizt nicht mit Zitaten und garniert mit grobkomischen Trunkenboldszenen, Verwechslungen, Versteckspielen sowie ständigen Brüchen. Auf einen herzzerreißenden Blick in lieblose Abgründe – folgt ein zotiger Witz.
„Knallhart gegeneinander setzen von sehr ernst und sehr albern, das mache ich gern“, sagt Matschoß. Auf dass sich eine emotionale und intellektuelle Achterbahnfahrt ergebe. Was 2016 erstmals eine Nominierung für den George-Tabori-Förderpreis eingebracht hat.
Regie-Hans-Dampf
Begonnen hat das Jahrmarkttheater in Wettenbostel mit Shakespeares „Was ihr wollt“ und „Hamlet“ sowie Goldonis „Diener zweier Herren“. Dann wagte Matschoß, sein in Hamburg entwickeltes szenisches Schreiben für den Heide-Einsatz fortzuspinnen. Ist er doch Autor der Kiez-Revue „Heiße Ecke“, die seit 14 Jahren die Touristen an der Reeperbahn im Tivoli bespaßt. „Die Tantiemen sind meine Grundsicherung“, sagt der Theatermann.
Matschoß jr. war jahrzehntelang ein Regie-Hans-Dampf an Hamburgs Bühnen, vom Ernst-Deutsch-Theater über Kampnagel bis hin zum Schauspielhaus. Und hat mit dem „Jedermann“ in der Speicherstadt und dem „Jahrmarkt des Abschieds“ in der Hafencity bereits Ambiente-Spektakel inszeniert.
Auch mit dem Jahrmarkttheater läuft es glänzend. In Werbung muss nicht investiert werden. Alle 18 Vorstellungen der Bauernhofbespielung sind schon vor der Premiere ausverkauft. „90 Prozent der Besucher sind Stammgäste aus der Region, zumeist keine Theatergänger. Inklusive Kinderstück, Gastspielen und Wintersaison haben wir 6.000 Besucher pro Jahr“, so Matschoß. An eine Expansion der Spielzeit, Produktionen und Aufführungen ist aufgrund der großen Nachfrage allerdings nicht gedacht. „Den Charme der Leichtigkeit, den das jetzt hier hat, den wollen wir behalten und klein bleiben“, so Matschoß.
In der freien Theaterszene Niedersachsens werden die Zuschauerzahlen auch scheel beäugt. Wer so viel Publikum hat, biedert sich doch an, oder? „Wir profitieren von der quasi Monopolstellung“, so Imig. Kultureller Höhepunkt der Region ist sonst nur das Heideblütenfest in Amelinghausen. Damit es auch Theater gibt, überweist das niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kunst 10.000 Euro als institutionelle Förderung. Für ein Projekt wie die „Erfindung der Liebe“ wirbt Imig noch 15.000 Euro Projektmitteln des Ministeriums ein, die Stiftung Niedersachsen gibt 12.000 Euro hinzu und der Fonds darstellender Künste des Bundes legte 15.000 Euro drauf.
Imig weiß, wie Anträge zu formulieren sind: „Wir müssen und wollen zeitgenössisch innovativ sein – und da gerade das Partizipative angesagt ist, haben wir diesen Aspekt bei unserem Hochzeitsfest in den Vordergrund gestellt.“ Was ja prima klappt.
Besonders charmant ist das nachmittäglich zelebrierte Kinderstück „Zebraline“. Text und Regie: natürlich Thomas Matschoß. Gespielt wird auf der Insel des mit Seerosen überwucherten Dorftümpels, aber auch in einem Ruderboot und den umliegenden Bäumen. Das Publikum macht es sich am Ufer bequem. Ist gebannt von einer (im positivsten Sinne) rampensäuisch fidelen Schnodderprinzessin (Tahere Nikkhoyemehrdad), die schwarz und weiß Gestreiftes über alles schätzt und auch ihrem Kuschelfisch ein Zebrafellleibchen strickt. Dann aber die Liebe für sich erfindet und auf einen bezipfelmützten Riesenzwerg projiziert, der es allerdings vor allem bunt mag.
Wie das kompatibel ist? Beide öffnen sich für die Farbvorlieben des anderen. Und müssen fürs Happy End nur noch all die buhlenden Prinzen-Gecken verjagen. Wofür sich Matschoß die Rolle einer Krake, als deus ex machina, auf den Leib geschrieben hat und einen eindrücklichen Auftritt durchs Wasser stapft. Wären nicht das Naturbühnenbild und die spielfreudigen Darsteller, würde das Toleranz-Stück etwas pädagogisch wirken. So ist es ein kleines Verzauberungsfest.
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