Theater-Saisonstart im Norden: Geschichten im Krisenmodus

Post-Corona-Spielzeit #2 beginnt. Einen ambitionierten Anfang macht das Hamburger Ernst Deutsch Theater mit dem Bürgertums-Drama „Am Ende Licht“.

Ein Mann und eine Frau nehmen sich in den Arm, im Hintergrund stehen zwei Männer

Auch zur Freundlichkeit fähig: Simon Stephens aktuelles Stück ist hoffungsvoller als seine älteren Foto: Oliver Fantitsch

Schluss mit sommerlustig. Lehrende und zu Belehrende sind in die Klassenzimmer zurückgekehrt, für die Schau­stel­le­r:in­nen von Schmerz, Lust und Gewissensforschung öffnen nach und nach die Theater wieder. War die erste Postcorona-Saison mit vielen populären Angeboten vor allem darauf ausgerichtet, Zu­schaue­r:in­nen aus heimischen Sofalandschaften zurück zu locken ins ebenfalls gepolsterte Parkett: Bricht sich nun aufgestaute Experimentierlust wieder Bahn? Eine Möglichkeit dazu eröffnet das Theater in Braunschweig mit dem Genre-verwirrten Schauspiel „Garland“ von Svenja Viola Bungarten. Weitere Saisonstarts im Norden wirken dagegen eher vorsichtig bis übervorsichtig.

Zum Thema Alzheimer fällt den Verantwortlichen in Oldenburg etwa nur der bundesweite Theaterhit „Vater“ von Florian Zeller ein. Andernorts sollen Klassiker Aufmerksamkeit generieren: Celle geht auf Nummer supersicher mit Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, Bremen offeriert mit Lessings „Emilia Galotti“ das Stück zum Abiturthema, immerhin aber auch mit einem interessanten Dreh; Bremerhaven hat sich für Kleists nicht minder kanonischen „Zerbrochnen Krug“ entschieden; Ibsens „Nora“ will sich in Göttingen emanzipieren, Hannover lässt Shakespeares „Richard III.“ wüten.

Arg anbiedernd beginnt Wilhelmshaven die Saison mit einem Zarah-Leander-Musical, in diesem Genre versucht Hildesheim dem „Woyzeck“ nahezukommen und Osnabrück bespaßt mit „Shakespeare in love“ das Publikum. In Kiel und Schwerin läuft gleich das Kraftwerk der Gefühle heiß mit der todtragisch zugespitzten Amor fou in Pucci­nis „La bohème“, Lübeck lud vorab zu Tschaikowskys „Eugen Onegin“ ein, mithin zum Mitleiden, wenn zwei Menschen an ihrer großen Liebe scheitern, Lüneburg setzt mit Purcells „Dido und Aeneas“ ebenfalls auf gebrochene Herzen.

Um mit antiken Stoffen mehr als bipolarer Leidenschaftshuberei zu frönen, einfach mal die Geschichte der Zivilisation zu erzählen, lockt das Hamburger Deutsche Schauspielhaus zum wahrscheinlichen Saisonstarthöhepunkt: einem gleich fünfteiligen Premierenmarathon, überschrieben „Anthropolis“. Während die Konkurrenz des Thalia Theaters mit der – wie es aussieht, schlecht gealterten – Aufregung um Benjamin von Stuckrad-Barres MeToo-Medien-Roman „Noch wach?“ eher auf ein bisschen Skandal setzt.

Jede Menge soziale Probleme

Vor allen anderen aber kommt das ebenfalls Hamburger Ernst-Deutsch-Theater aus den Startlöchern. Seine künstlerische Neuorientierung betont es mit zeitgenössischer Dramatik: Simon Stephens „Am Ende Licht“ bringt seit dem 24. August ein Kompendium sozialer Probleme zur Premiere. Da bricht die seit Monaten trockene Trinkerin Christine beim Griff ins Wodka-Regal des Supermarkts zusammen und nutzt die Zeit bis zum vollständigen Ableben, um mit ein paar versöhnlichen letzten Worten nochmal kurz bei ihrer Familie zu schauen, was die gerade so treibt: Gatte Bernard versucht mit seiner langjährigen Geliebten und ihrer Freundin irgendwie Spaß beim Sex zu haben.

Die in ihrer Einsamkeit verrückt werdende Tochter Jess hat selbst ein Alkoholproblem und erwacht nach einem Besäufnis neben dem vor lauter Schulden zum brutalen Geldeintreiber mutierten Michael. Die bockig sarkastisch verzweifelte andere Tochter Ash kämpft nach gescheitertem Suizid als alleinerziehend überforderte Mutter mit dem Junkie-Vater ihres Babys um Unterhalt. Und Sohn Steven, vom Stress des Jurastudiums zermürbt, ist in lodernder Trennungsangst auf seinen Liebhaber bezogen.

Sie alle kreiseln mehr oder weniger hilflos um die in ihnen tobenden Dämonen und balancieren unsicher an den Abgründen ihrer Ich-Entwürfe. An all dem zwischenmenschlichen Misstrauen weiß sich Christine mitschuldig – als berauschte Leerstelle des Familienlebens.

Die Geschichten im Krisenmodus serviert Regisseur Elias Perrig ohne Betroffenheitskitsch als behäbig textgetreue Collage ineinander geblendeter Szenehäppchen. Surreal aufgelockert wird der Well-made-Realismus mit der von Handlungsort zu Handlungsort in unterschiedlichen Verkleidungen/Rollen geisternden Mutter. Super Schauspielfutter bietet dieses Sozio-Psychogramm einer absturzgefährdeten Mittelschichtsfamilie.

„Am Ende Licht“: bis 22. 9., Hamburg, Ernst Deutsch Theater. Stückeinführung am 14. 9., 19 Uhr, Foyer.

Ab 28. 10. wird das Stück auch im Osnabrücker Theater am Domhof gespielt (Regie: Christian Schlüter)

Und es gibt auch überzeugende Darstellungen zu sehen: Neben Maria Hartmanns Christine etwa Louisa Stroux. Sie gestaltet eindringlich Jess’ Entwicklung von der miesepetrig erwachenden, sich dann hohnlachend barsch in der desolaten Katerstimmung behauptenden Frau, die für die erhofften Möglichkeiten menschlicher Nähe schließlich auftaut, sich vor der erwachenden Verliebtheit zwar ängstigt, dann aber mit warmherzigem Tonfall ihren One-Night-Stand umgarnt, der demütig seine Wandlung vollzieht: vom eiskalten zum scheu mitfühlenden Engel. Plump hingegen gerät Bernards Auftritt: Christoph Tomanek zeigt die Midlife-Crisis nur triebanimiert albern und verklemmt nervös, weswegen der unflotte Dreier im Hotel-Himmelbett auf Boulevardtheaterniveau stattfindet.

Und doch wirkt der Abend dramaturgisch stringent. Alle Figuren sind erst mal von ihrer unsympathischen Seite kennenzulernen: die Mutter im Eröffnungsmonolog als vom Leben eher angeekelte Süchtige; die um sich wütenden Kinder; der kindische Vater. Vielfach agieren sie zu laut, zu grell, zu klischeehaft, bis ihre Problemlagen verständlich werden und die Inszenierung Empathie für alle einfordert. Der Abend erhebt sich aus der Trostlosigkeit und endet wie der Stücktitel verheißt: hoffnungsvoll. Das schummrige Licht auf die der halbrund eingefassten Bühne wird nicht heller, aber die fragilen Beziehungen scheinen zur finalen Beerdigungsfeier gefestigt, alle kümmern sich liebevoll um Ashs Nachwuchs.

Eine Ode an heilend wirkende Familienbande? Dass Menschen nicht nur zur Barbarei neigen, wie Stephens’ frühere Stücke zeigen, sondern auch zu Freundlichkeit fähig sind, wird den Zu­schaue­r:in­nen als leiser Appell mitgegeben. Versöhnlich postdramatisches Theater, das die versehrten Figuren wohlwollend ernst nimmt.

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