Tempelberg-Streit in Jerusalem: Weder Kamel noch Esel
Araber und Juden streiten, wem der Tempelberg in Jerusalem gehört. Wir sollten eine gelbe Linie um den Berg ziehen. Und dann ein Schnitzel essen.
N ehmen Sie manchmal in Deutschland einen Zug? Ich mache das oft. Gerade bin ich am Hauptbahnhof in Hamburg, schaue mir die adretten Menschen an, den schönen Bahnsteig, die gewaltigen deutschen Züge. Und dann sehe ich direkt neben mir dieses Stückchen Bahnsteig – von gelben Linien umgrenzt. Einige Leute stehen in dem aufgemalten Quadrat und rauchen, andere stehen außerhalb und rauchen nicht. Kein Fuß eines Rauchers übertritt die Linie. Unglaublich, wie sich die Leute an diese Grenze halten. Ein Außenstehender, der es sieht, würde sagen: „Diese Deutschen.“
Während ich diese Wesen ansehe, piepst mein Telefon. Eine E-Mail. Ich liebe mein Telefon, ein iPhone 6 plus – in Deutschland gekauft. Egal. Ich lese die E-Mail. Eine Dame names Steffi, eine sehr nette Dame vermutlich, da sie aus Berlin kommt – ich liebe diese Berliner –, fragt mich, ob ich etwas über den Jerusalemer Tempelberg schreiben würde. Für die taz. Die taz ist links, und ich kann nicht „nein“ sagen. Ich habe nur ein Problem: Wie soll ich Leuten, die keiner Zehe ihres Fußes erlauben, die gelbe Linie zu übertreten, die Geschichte dieses Heiligen Berges erklären?
Im Nahen Osten kennt keiner gelbe Linien. Sie könnten einen Eimer gelber Farbe auf dem Boden verstreichen, und Araber als auch Juden würden Sie anschauen und fragen: Was will diese geistig kranke Person hier? Wie aber soll ich Ihnen, einem Gelbe-Linien-Wesen, die Geschichte des Heiligen Berges erklären, ohne es in die Kategorie von gelben Linien zu fassen?
ist Schriftsteller, Theaterregisseur und Autor des Buchs „Allein unter Juden“. 1994 gründete er das Jewish Theater of New York.
Vielleicht fange ich mit der Farbe an: Vergessen Sie Gelb! Dort drüben bedeuten gelbe Linien nichts. Rote auch nichts. Nur grüne und blaue. Beginnen Sie, bitte, in Grün und Blau zu denken.
Kommen Sie damit klar? – Gut.
Noch etwas sollten Sie vergessen: ein Wort, nämlich „Fakten“. Fakten, Schmakten – sie zählen überhaupt nichts. Denken Sie einfach an das, was Ihre Politiker am Wahltag versprechen. Dann wissen Sie, dass Fakten keinen Wert haben. – Aber was bleibt, fragen Sie, wenn Linien und Fakten weg sind?
Die Geschichten hauen dich um
Tja, Geschichten. Geschichten sind mächtiger als jede Realität. Denken Sie an Ihren Lieblingsfilm – vielleicht verstehen Sie dann, was ich meine. Der Heilige Berg sieht aus wie jeder andere Ort – zum Beispiel in Berlin-Mitte. Aber seine Geschichte und die Geschichten die sich um ihn drehen, hauen dich um. Mach dir allein seine vielen Namen klar: Tempelberg, Haram al-Sharif, al-Aksa. Das sind nur die bekanntesten. Jeder steht für etwas anderes.
Die Juden sagen, der Heilige Tempel stand vor Tausenden von Jahren auf dem Berg und wird eines Tages wieder dort sein. Wie und wann? Ganz einfach: Der Messias wird auf einem viertausend Jahre alten weißen Esel, der ursprünglich Abraham gehörte, nach Jerusalem reiten und der Heilige Tempel in einer Feuerwolke vom Himmel hinabschweben. Deshalb ist dieser Ort den Juden heilig.
Die Araber des Landes, fast alle Muslime, schwören dagegen darauf, dass kein weißer Esel je die Heilige Stadt betreten wird. Der Heilige Berg, sagen sie, hat nichts mit Juden zu tun – nur mit Muslimen. Eines Tages, vor über tausend Jahren, hielt ein himmlisches Pferd names Burak neben dem Propheten Mohammed in Mekka, ließ ihn aufsteigen, flog mit ihm auf den Heiligen Berg, von wo er in den Himmel weiterflog für ein besonderes Treffen mit Gott. Deshalb ist dieser Ort den Muslimen heilig.
Einige Muslime denken, das mit dem Pferd sei doof. Welches Pferd? Es war ein Kamel. Ein himmlisches. Was auch immer. Wegen solcher Geschichten jedenfalls streiten sich diese zwei Cousins, die Araber und die Juden, darum, wem dieser Berg gehört.
Wer ist der Mann, der zur Toilette geht?
Das mache keinen Sinn? Geben Sie nicht auf. Gelbe-Linien-deutsche-Politiker und -Intellektuelle, die aus gutem Grund nicht an die Eselstory glauben, bestehen dennoch darauf, dass der Heilige Berg das Haus des himmlischen Tieres sei, Pferd oder Esel, und sie sind sogar bereit, Millionen Euro zu investieren. Verstehen Sie sie?
Die Araber finden die gelben Kreaturen übrigens gut. Neulich war ich in der Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg, verspürte mitten in der Heiligkeit um mich ein Bedürfnis zu urinieren und ging zur Toilette. Sie hätten sehen sollen, was für eine Kettenreaktion das in Gang setzte: Islamische Security-Leute wurden sehr aktiv, sprachen in Walkie-Talkies, wer ist der Mann, der zur Toilette geht? Ein Deutscher. Diese Antwort liebten sie, und mir wurde erlaubt, so viel zu pinkeln, wie ich wollte. Hätte man ihnen erzählt, dass ich jüdisch bin, der Dritte Weltkrieg wäre ausgebrochen.
Zurück zum Thema: Warum, fragen Sie, ist der Heilige Berg kürzlich vor unseren Augen explodiert? Ist ein weißer Esel gekommen? Ein himmlisches Kamel? Nein und nein. Es kamen einzig die Gelbe-Linien-Kreaturen und ihre Freunde, nenne alles: den Westen.
Einige Jahre nun schon ist der Westen sehr mit den Arabern beschäftigt: In den Irak musste er zweimal einmarschieren, Libyen bombardieren, Chaos in Ägypten und Afghanistan stiften – alles im Namen von Peace & Love, zwei Worte, die die christliche Welt schon lange am Zersetzen ist. Und wenn Sie nicht zu sehr damit beschäftigt wären, auf einem Deutsche-Bahn-Bahnsteig zu rauchen, wüssten Sie, dass sich dieser Tage ein europäisches Parlament nach dem anderen verurteilend in die Situation des Nahen Ostens einmischt, was keiner Seite nützt. Durch die schiere Tatsache, dass wir darüber urteilen wollen, was heiliger ist, das Kamel oder der Esel, ermuntern wir – wissentlich oder nicht – die zwei Cousins, solange weiterzukämpfen, bis endlich eine der beiden Kreaturen erscheint.
Ruhe mit Wiener Schnitzel
Der fragile Nahe Osten wird jeden Tag fragiler, nicht trotz der Friedensbemühungen des Westens, sondern wegen ihnen. Wir aus dem Westen verstehen weder das himmlische Kamel noch den heiligen Esel. Wir verstehen nur was von Linien. Deshalb wird es Zeit, dass wir eine gelbe Linie um den Heiligen Berg ziehen und danach nach Berlin-Mitte gehen und irgendwo ein gutes Wiener Schnitzel essen. Wenn wir das tun, wenn wir die zwei Cousins einfach in Ruhe lassen, kommen sie vielleicht auf die Idee, ebenfalls ein Wiener Schnitzel zu probieren. Sorry, Veganer, frisches Fleisch schmeckt nun mal besser als tausend Jahre alte Tiere – egal ob sie fliegen können oder nicht.
Oops. Ich rauchte außerhalb des gelben Quadrats, und die Leute hier machen Gesichter, als dächten sie: Nazi. Kommt mir jedenfalls so vor. Wow! Sie sind wirklich total verrückt diese Leute. Welchen Gott beten sie bloß an?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour