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Teilwahlen in GroßbritannienRechter Höhenflug auf Kosten von Labour und Tories

„Reform UK“ gewinnt Regionalwahlen in England sowie eine Nachwahl zum Unterhaus. Die Rechtspopulisten wollen nun die Migrations- und Klimapolitik der Labour-Regierung blockieren.

Gewonnen! Reform-Parteichef Nigel Farage und Sarah Pochin, die neue Parlamentsabgeordnete Foto: Peter Byrne / PA Wire / dpa

Berlin taz | Millbank Tower im Londoner Regierungsviertel, nur ein paar Straßen flussaufwärts vom Parlament am Themse-Ufer, ist ein ikonisches Gebäude der britischen Politik. In diesem Glaskomplex organisierte Tony Blair den Labour-Wahltriumph von 1997, nach dem Brexit-Referendum 2016 feierte hier die EU-Austrittskampagne von Nigel Farage, und heute befindet sich hier die Zentrale von „Reform UK“, Farages neuester Partei, die am Freitagabend ihren bisher größten Wahlsieg feierte.

Reform UK gewann bei den englischen Teilwahlen vom Donnerstag nicht nur die Nachwahl für den Unterhaussitz Runcorn & Helsby, bisher ein sicherer Labour-Wahlkreis und jetzt mit knappen sechs Stimmen Vorsprung an „Reform“-Kandidatin Sarah Pochin gefallen. Die Rechtspopulisten holten auch absolute Mehrheiten in 10 der 16 in diesem Jahr zur Wahl stehenden „counties“ (Grafschaften), den Distriktverwaltungen im ländlichen England, und setzten sich insgesamt bei den Teilwahlen mit rund 30 Prozent der Stimmen gegen 20 für Labour, 17 für die Liberaldemokraten und 15 für die Konservativen klar als stärkste Kraft durch.

Vorher hatten die Konservativen alle 16 Grafschaften alleine regiert – jetzt keine einzige mehr. Reform UK regiert 10 mit absoluter Mehrheit, vor allem in Mittelengland sowie Devon und Kent, und stellt auch die Regionalbürgermeister der beiden ostenglischen Küstenregionen Greater Lincolnshire und Hull & East Yorkshire.

Von 1.641 lokalen Wahlkreisen holte Reform UK, das bei der letzten Wahl 2021 noch gar nicht antrat, aus dem Stand 677. Die Konservativen sackten um 676 Sitze ab und haben jetzt noch 317. Labour schrumpfte ebenfalls massiv, 186 Sitze gingen verloren, es bleiben 99. Zugewinne erzielten neben Reform UK auch Liberale (plus 163) und Grüne (plus 45). Die Liberaldemokraten, die die gebildete Mittelschicht ansprechen, regieren nun Oxfordshire und Cambridgeshire.

„Das System ist gestorben“

Je deutlicher sich im Laufe des Freitags der „Reform“-Durchmarsch herauskristallisierte, desto größter wurde der Jubel bei Farage und seinen Getreuen. „Genug ist genug. Genug Tory-Versagen, genug Labour-Lügen,“ hatte die neue „Reform“-Unterhausabgeordnete Pochin, eine Überläuferin von den Konservativen, in ihrer Siegesrede in Runcorn schon Freitagmorgen gesagt und Nigel Farage zum „nächsten Premierminister dieses großen Landes“ ausgerufen.

Farage sieht sich in seiner Strategie bestätigt: erst die Konservativen als Hauptoppositionskraft zu Labour ablösen, dann Labour an der Regierung. In einem Gastbeitrag im Sunday Telegraph schrieb er am Sonntag: „Das System, das dieses Land seit einem Jahrhundert beherrscht, ist am Donnerstag gestorben und wird nie mehr zurückkehren“. Die Konservativen seien „tot“, ihre Wähler sollten sich jetzt ihm anschließen.

Kemi Badenoch, die seit einem halben Jahr amtierende neue Parteichefin der Konservativen, bemühte sich am Wochenende nach Kräften, diesem Eindruck zu widersprechen. „Wir werden kämpfen“, sagte die nigerianischstämmige Politikerin in einem TV-Interview. „Aber wir werden nicht einfach rausgehen und den Leuten Dinge erzählen, die nicht stimmen, bloß um Wählerstimmen zu gewinnen.“ Unterschiedliche Tory-Größen rieten dazu, einen kühlen Kopf zu bewahren und in aller Ruhe daran zu arbeiten, bei den nächsten britischen Wahlen – spätestens 2029 – Labour wieder an der Regierung abzulösen.

Reform UK will nun aber sofort liefern und sich als bessere Alternative inszenieren. Migration und Klimaschutz sind die Politikfelder, auf denen die Rechtspopulisten in ihren neugewonnenen Machtzentren der Labour-Regierung Kontra geben wollen. Die neuen „Reform“-Administrationen sollen die Umwandlung von Hotels in Flüchtlingsunterkünfte und die Ausweisung neuer Flächen für Solar- und Windkraftanlagen verweigern, kündigten „Reform“-Geschäftsführer Zia Yusuf und „Reform“-Vizevorsitzender Richard Tice an.

Die neue „Reform“-Unterhausabgeordnete Sarah Pochin, eine ehemalige Amtsrichterin, erklärte, sie werde Frauenrechte gegen sexualisierte Gewalt durch illegale Migranten verteidigen. Insgesamt lautet die „Reform“-Botschaft, mit einem Ende der Subventionierung von Migration und Energiewende ließen sich sämtliche Probleme Großbritanniens kurzfristig lösen.

Labour kommt Reform bereits entgegen

Im Bereich Migration kommt die Labour-Regierung bereits Reform UK entgegen. Wer ein Sexualverbrechen begeht, soll sein Aufenthaltsrecht beziehungsweise seinen Flüchtlingsstatus verlieren, kündigte Labour-Innenministerin Yvette Cooper vergangene Woche an. Außerdem soll die britische Kriminalitätsstatistik nach Natio­nalitäten aufgeschlüsselt werden.

Um den Klimaschutz tobt bei Labour Streit: Kurz vor den Wahlen regte Expremierminister Tony Blair an, die britischen Klimaschutzziele fallen zu lassen, und erntete Wide­rspruch in der Partei, aber Zuspruch bei manchen Gewerkschaftern.

Mit Reaktionen auf das Wahldebakel insgesamt hält sich Labour jetzt auffällig zurück. Eine Ankündigung von Premier­minister Keir Starmer, man müsse jetzt „schneller und weiter“ gehen, damit die Leute etwas von der Labour-Politik merken, wurde auch aus den eigenen Reihen als dürftig kritisiert.

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1 Kommentar

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  • Man sieht, dass auch in Großbritannien rechte Parteien einen enormen Zuspruch erhalten, sofern die Probleme der Menschen nicht ernst genommen werden. Auch dort gehört das Problem der Migration gelöst und eine Klimapolitik betrieben, die finanzierbar ist.