Teamwork bei der Tour de France: Alle für jeden
Im Radsport gibt es Chefs und Wasserträger. Nur bei einem Team ist das anders. Sunweb hat das Fahren ohne Chef bei der Rundfahrt perfektioniert.
Radsport ist gewöhnlich eine durchhierarchisierte Gesellschaft. Es gibt die Kapitäne und die sprichwörtlichen Wasserträger, dazu Spezialisten für Zeitfahren, Sprints und Bergfahren. Wer als Spezialist exzellent ist, kann Kapitän werden. Wer in seiner Spezialbegabung aber immer wieder andere an sich vorbeiziehen lassen muss, wird wieder degradiert und muss als Windbrecher die Chefs aus den bremsenden Luftströmen halten.
Team Sunweb verfolgt eine andere Strategie. Man könnte sie als Feuern aus allen Rohren bezeichnen. „Wir sind ohne Kapitän zur Tour gekommen, aber mit acht starken Fahrern, von denen jeder auch seine Chance auf einen Etappensieg haben soll“, erzählt Nikias Arndt, Road Captain bei Sunweb. Mit solchen Sprüchen kommen viele Teams zur Tour, all jene, die nicht das Geld für einen echten Crack haben oder bei denen die Cracks verletzt sind. Sie gehen dann in Fluchtgruppen und versuchen ihr Glück.
Was die Sunweb-Truppe bei dieser Tour von solchen Notgemeinschaften unterscheidet, ist die komplexe und äußerst fluide Strategie. Da greift nicht nur ein Fahrer an, um sein Glück zu versuchen, sondern zwei, manchmal sogar drei Fahrer attackieren wechselseitig und zermürben so die Konkurrenz.
Ein Beispiel für das Radsportlehrbuch schrieb das Team auf der 14. Etappe von Clermont-Ferrand nach Lyon. Da attackierte im Finale zunächst der Belgier Tiesj Benoot. Er wurde dann aber eingefangen. Danach versuchte es Marc Hirschi, Etappensieger zwei Tage zuvor. Weil „Flying Hirschi“ bei der Konkurrenz mittlerweile gefüchtet ist, setzten ihm alle nach. Dann stob Søren Kragh Andersen davon, der dritte endschnelle und bergfeste Fahrer im Kader. Und er gewann.
Wechselseitige Attacken
„Der Plan war, offensiv zu fahren. Wir hatten vor, mit diesen drei Fahrern wechselseitig zu attackieren“, sagt Arndt rückblickend. „Dass Søren die finale Attacke gefahren hat, war eher Zufall. Man hat das ja nicht in der Hand. Manchmal wird auch der weggelassen, der zuerst angreift. Das wäre dann Tiesj gewesen.“ Oder später eben Hirschi. Und hätte es bei Kragh Andersen nicht geklappt, hätten es Benootj und Hirschi eben wieder versucht. „Man hat gesehen, dass sich bei uns ein Fahrer für den anderen einsetzt“, bilanzierte Arndt. Einzelkönner fügen ihre Attacken zu einer Sinfonie zusammen.
Dieses Musikstück auf Rädern kann natürlich nur aufgeführt werden, weil die Interpreten sich aufeinander verlassen können. „Wenn der eine seine Körner verschießt, weiß er auch, der andere ist noch da. Das war ein Paradebeispiel für Teamarbeit“, meint Arndt.
Der Road Captain war an diesem Tag noch besonders gefordert. Denn eigentlich hatte die Strategie ganz anders ausgesehen. „Wir wollten zwei Mann in der Fluchtgruppe unterbringen. Das hat auch ganz gut geklappt.“ Doch die Gruppe blieb klein und kam auch nicht weit weg. „Also haben wir unsere beiden Fahrer aus der Gruppe zurückgerufen“, erzählt Arndt. Das löste Erstaunen aus.
Arndt hatte aber einfach nur eine Mathematikaufgabe gelöst. Vorn waren zu wenig Beine und hinten zu viel engagierte Verfolger. „Dann haben wir Fahrer während des Rennens miteinander gesprochen und die Taktik für das Finale ausgemacht“, erzählt Arndt weiter. Da waren souveräne Arbeitnehmer im Einsatz, die eine Situation analysieren und zu einer kollektiven Entscheidung kommen. Die sportlichen Leiter im Auto konnten da bestenfalls zuhören. So kann Radsport also auch gehen.
Ob diese Strategie dauerhaft angewendet wird, bezweifelt aber auch Arndt. Denn bei der Tour wurde nur aus der Not eine Tugend gemacht. Viele einstige Kapitäne haben das Weite gesucht, wie Tom Dumoulin oder John Degenkolb. Auch der letzte größere Star, der Australier Michael Matthews, wird zum Saisonende wechseln und wurde gar nicht erst mit zur Tour genommen. Der Mangel an Chefs führt zwangsläufig zur flachen Hierarchie. In der nächsten Saison kommt Romain Bardet. „Kann sein, dass wir da wieder mehr auf Klassement fahren“, sagt Arndt – und erfreut sich bis dahin am erfolgreichen Experiment des Fahren ohne Chefs.
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