„Tatort“ während Corona: „Gucken doch eh zehn Millionen“
Es tatortet wieder. Zwei Regisseur*innen und zwei Drehbuchautoren erzählen von der Relevanz der ARD-Reihe im 50. Jubiläumsjahr.
Lange war unklar, ob es nach der Sommerpause in der gewohnten Regelmäßigkeit neue „Tatort“-Folgen geben würde. Wegen der Pandemie waren Dreharbeiten teils verschoben worden. Die, die stattfanden, mussten an Coronabedingungen angepasst werden. Zwischenzeitlich war der Nachschub an Krimistoffen in Gefahr. Mit dem sonntagabendlichen Fernsehritual stand zwar keine „systemrelevante“ Versorgung auf dem Spiel, aber doch eine letzte Bastion der Regelmäßigkeit. Die ARD-Krimireihe ist das beliebteste fiktionale Fernsehformat in Deutschland, selbst die Wiederholungen im Sommer schalteten zwischen vier und acht Millionen ein. Die Erstausstrahlungen 2019 sahen im Schnitt neun Millionen – 300.000 mehr als im Jahr zuvor.
Mittlerweile gibt die ARD-Programmdirektion Entwarnung: Man gehe davon aus, dass bis zur Sommerpause 2021 planmäßig Erstausstrahlungen gezeigt werden können. Die Folgen entstünden allerdings unter eingeschränkten Bedingungen. Die Dreharbeiten zur zweiten Folge des Jubiläums-„Tatorts“ etwa – ein gemeinsamer Fall der Dortmunder und Münchner Teams, mit dem die Reihe ihr 50-jähriges Bestehen feiert – mussten zwischenzeitlich abgebrochen werden.
Bevor es Mitte Juni weitergehen konnte, wurden unter Coronabedingungen schwer umzusetzende Szenen, etwa mit vielen Kompars*innen oder solche, die Autofahrten mit Dialogen vorsahen, geändert. Am Set dann Mindestabstand, Händewaschen, Maskenpflicht, regelmäßige Tests. Inzwischen befindet sich „In der Familie, Teil 2“ in der Postproduktion – die verkürzte Fertigstellungszeit sei „ziemlich krass“, sagt Regisseurin Pia Strietmann, ein Verschieben aber aufgrund des Jubiläums im November nicht möglich.
Strietmann ist eine recht neue „Tatort“-Regisseurin und hatte erst dieses Jahr mit „Unklare Lage“ – an das Attentat auf das Olympia-Einkaufszentrum angelehnt – ihr Debüt. Sie steht der Reihe recht kritisch gegenüber. Vorherige Drehbücher habe sie abgelehnt: zu belanglos. Dass sie zustimmte, habe daran gelegen, dass „Unklare Lage“ „im besten Sinne kein richtiger ‚Tatort‘ “, sondern ein „erdiges Polizeistück“ sei. Absolute Realitätsnähe sei ihr wichtig – auch beim zweiten Teils der Jubiläumsdoppelfolge, in der es um die Verstrickung einer Familie in die Strukturen der ’Ndrangheta geht. Es seien die „reinen Ulknudelsachen“, mit denen sie wenig anfangen könne, sagt sie. „Ich finde die weder besonders lustig noch besonders spannend, noch irgendwie relevant.“
Weniger Experimente
Das quotenmäßig mit Abstand erfolgreichste Ermittlerteam sind „Thiel und Boerne“ aus Münster (zuletzt durchschnittlich knapp unter 13 Millionen Zuschauer*innen) – ein Slapstick-„Tatort“, der die traumhaftesten aller Traumquoten einfährt. Die als besonders „experimentell“ geltenden Folgen der Wiesbaden-Reihe mit Ulrich Tukur hingegen rangieren trotz aller positiven Kritiken und zahlreicher Auszeichnungen auf den letzten Plätzen – mit etwa 7,5 Millionen Zuschauer*innen. Das Zuverlässige, vielleicht Erwartbare funktioniert grundsätzlich besser als das innovative Fernsehen, für das sich ambitionierte Filmemacher*innen interessieren.
Murmel Clausen, Drehbuchautor
So ist der Grund für die steigenden Einschaltquoten im Jahr 2019 wohl auch, dass die Zahl sogenannter experimenteller Folgen reduziert worden war. Drehbuchautor Erol Yesilkaya wehrt sich aber gegen die gängige Behauptung, dass das Publikum experimentelle „Tatorte“ generell ablehne. „Die oberste Regel ist und bleibt: Wenn es ein spannender Film ist, geht auch das Publikum mit – egal wie experimentell.“ Yesilkaya ist dafür bekannt, gemeinsam mit Regisseur Sebastian Marka ausgetretene „Tatort“-Pfade zu verlassen. Ihr Berlinale-„Tatort“ „Meta“ wurde letztes Jahr mit dem Grimme-Spezialpreis ausgezeichnet. Inzwischen hat Yesilkaya zwölf von diesen ungewöhnlichen „Tatorten“ geschrieben – und findet, dass es gerade der Abwechslungsreichtum, sei, der die Zuschauer*innen an das Format binde.
Für Drehbuchautor Murmel Clausen, der für den Comedy-„Tatort“ aus Weimar mit Nora Tschirner und Christian Ulmen in den Hauptrollen schreibt, schließen sich Humor und Realitätsnähe nicht zwangsweise aus: „Weimar ist kein sozialer Brennpunkt. Ich glaube nicht, dass unser ‚Tatort‘ in München, Berlin oder Hamburg funktionieren würde. Münster hingegen ist auch ein bisschen Kaff, da ist die Welt relativ in Ordnung, da kann man auch so was Schräges abfeiern.“ Der „Tatort“ sei einfach ein Stück Kulturgut, das am Montag für Gesprächsstoff am Arbeitsplatz sorge: „Man kann sich gemeinsam darüber aufregen oder ihn – in Ausnahmefällen – sogar gemeinsam toll finden.“
Debatten, die bewegen
Dass der „Tatort“ zu einem Sonntagabendritual werden konnte, das so sehr bewegt, dass am nächsten Tag am Arbeitsplatz darüber diskutiert wird, das via Social Media live kommentiert (oder zerrissen) und von den Feuilletons mit wöchentlichen Kritiken bedacht wird, hat wohl auch mit der gesellschaftlichen Relevanz zu tun, die dem Format nachgesagt wird. Mit zuverlässiger Regelmäßigkeit werden – mal mehr, mal weniger gelungen – Debatten abgebildet, die gerade bewegen. „Der ‚Tatort‘ liefert, wenn es nicht gerade ein spezieller ist wie der Weimarer, auch einen aktuellen Einblick in die deutsche Seele“, sagt Clausen.
Regisseurin Pia Strietmann erzählt von einer prägenden Erfahrung aus einem Redaktionsgespräch, als über ein formales Detail diskutiert wurde: „Damals sagte ich flapsig: ‚Ist doch egal, wie wir das machen – das gucken doch eh zehn Millionen.‘ Ich bekam als Antwort, dass es nicht nur ein Geschenk sei, das man da als Filmemacher bekommt. Sondern auch eine Verpflichtung – wenn schon so viele Leute einschalten –, dass man auch etwas Relevantes anbietet. Ich glaube, das ist auch der Grund, weswegen es mich aufregt – fast traurig macht –, wenn ‚Tatorte‘ dieser Verpflichtung nicht nachkommen.“
Eine Verpflichtung, die Schauspieler-Urgestein Udo Wachtveitl vom Münchner „Tatort“ zu weit zu gehen scheint. Vor Kurzem äußerte er gegenüber der Zeit Kritik daran, dass die Krimireihe mittlerweile moralisch viel zu erwartbar geworden sei. Ursache sei „1968er-Kitsch“; von Redakteuren, die keine „Ausländer“ als mögliche Täter zuließen, war die Rede.
Mut zu Neuem
Regisseur Sebastian Marka findet hingegen, dass die Reihe immer schon versucht habe, die Moral hervorzuheben. „Der Kommissar ist schließlich wie der Pfarrer in der Sonntagspredigt: einer, der stellvertretend für uns am Ende der Woche die Welt wieder geraderückt. Da kommt man um die Frage nach Moral nicht herum.“ Drehbuchautor Erol Yesilkaya ergänzt, dass gut und böse in seinen Filmen nie allein von der Gesellschaftsschicht oder gar der Ethnie abhingen. „Und mir wurde diesbezüglich von den Redaktionen stets freie Hand gelassen. Das gilt übrigens auch für die ‚Tatorte‘, die ich mit Udo als Kommissar geschrieben habe.“
Wie geht es weiter? Wenn der „Tatort“ sich auch dadurch auszeichnet, die jeweilige Alltagswelt seiner Zuschauer*innen abzubilden, müssten dann jetzt auch Stoffe inszeniert werden, die die Pandemie in den Blick nehmen?
Regisseurin Pia Strietmann ist sich unsicher, ob sie selbst einen Corona-„Tatort“ inszenieren würde – sie möchte erst mal eine „Tatort“-Pause. Murmel Clausen ist überzeugt, dass die neue Erfahrungswelt unbedingt erzählt werden muss – findet aber, dass das nicht in die lustig-heile Weimar-Welt passe. Erol Yesilkaya wiederum hat zwar gerade erst mit der ZDFneo-Serie „Sløborn“ über eine plötzlich auftretende Krankheit geschrieben. Durch den tatsächlichen Virusausbruch habe er aber schlagartig das Interesse an einem derartigen Stoff verloren. Sebastian Marka macht es von der Möglichkeit abhängig, „der Geschichte und den Figuren etwas hinzufügen zu können“.
Dass es jedenfalls den Macher*innen an Mut zu Neuem nicht mangelt, zeigt sich, wenn man sie nach ihren Wunschthemen fragt: Die Ideen reichen von „Stalking“ (Marka) über ein „liebevolles Zitat an ‚Nackte Kanone‘, umgesetzt mit einem seriösen Ermittlerteam“ (Strietmann), und „etwas in Richtung Sherlock Holmes“ (Clausen) bis zu „Zeitreisen“ (Yesilkaya). Ob das im Sinne des gewohnheitsverliebten Publikums wäre, ist eine andere Frage. Am Ende wird die Bedeutung des „Tatorts“ als beruhigende Konstante durch die Pandemie noch unterstrichen. Im Gegensatz zu vielen anderen TV-Formaten muss sich die Reihe nicht einmal vom Budget und der Risikobereitschaft der Streaminganbieter unter Druck gesetzt fühlen, da ihr Erfolg auf ganz anderen Sehnsüchten beruht. Idyllische Routine statt anspruchsvoller Experimente.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“