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Taiwanesischer Klassiker „Yi Yi“ im KinoOde an die kleinen Freuden

Vor 25 Jahren hinterließ der taiwanesische Regisseur Edward Yang seinen letzten großen Fußabdruck im Weltkino. „Yi Yi“ hat an Aktualität nichts eingebüßt.

Was der Sohn Yang-Yang (Jonathan Chang) vorhat, weiß man in „Yi Yi“ nie so ganz Foto: Rapid Eye Movies

Es scheint, als hätte fast jedes Land seine große künstlerische Familie, an deren Schicksal sich der kreative Zeitgeist misst. In Deutschland sind es zweifelsohne die Buddenbrooks, stellvertretend für die Literatenfamilie Mann selbst. Bei Tolstoi waren es die Karenins und die Oblonskis und ihre endlosen Verstrickungen miteinander. Und in Kolumbien verhalfen Generationen von Mitgliedern der Buendía-Familie Gabriel García Márquez zu Weltruhm. Vielleicht wird Teil von Regisseur Edward Yangs Vermächtnis sein, dass für Taiwan die Jians im kollektiven Gedächtnis haften bleiben.

Yangs Film „Yi Yi“, der derzeit in den Kinos sein 25-jähriges Jubiläum in restaurierter 4K-Fassung feiert, ist in vielerlei Hinsicht herausragend. Es ist nicht nur das letzte Werk des Filmautors, sondern gilt auch als Endpunkt der taiwanesischen New Wave. Innerhalb kürzester Zeit zementierte sich sein Ruf als Koloss des modernen Kinos. Die Prämisse ist dabei verblüffend simpel: Über drei Stunden seziert Yang minutiös die kriselnden Konstellationen ebenjener Taipeier Mittelklassefamilie Jian.

Schon in der einführenden Hochzeitssequenz wird deutlich, dass der Haussegen mächtig schief hängt. Die Ex-Partnerin von Bräutigam A-Di stürmt während der Vorbereitungen herein und versucht, seiner Mutter die hochschwangere Braut madig zu machen. „Dafür werde ich mich rächen!“, schreit die Verflossene den Gästen noch hinterher, während die Handlung schon weiterrauscht.

In den riesigen Hallen des Grand Hotels Taipei braut sich noch mehr zusammen. A-Dis Schwager NJ läuft nach 30 Jahren seiner Jugendliebe Sherry wieder über den Weg, die ihm Vorwürfe wegen seines plötzlichen Verschwindens damals macht. Kurz darauf betrinkt sich der Bräutigam auf der Feier hemmungslos. Immer wieder geht Yang für diese Szenen in die Totale, als würden die Jians im Angesicht ihres drohenden Unheils bereits schrumpfen.

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Trailer „Yi Yi“

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Jeder kämpft für sich allein

Währenddessen erleidet A-Dis Mutter zu Hause einen Schlaganfall und fällt in ein Koma. Seine Schwester Min-Min nimmt sie bei ihrer Familie auf, die neben ihr und NJ noch aus der zwölfjährigen Ting-Ting und dem achtjährigen Yang-Yang besteht.

Nach dem Schicksalsschlag resigniert jedes der Familienmitglieder auf seine Weise. Bei den Visiten am Krankenbett verschlägt es nahezu allen die Sprache. Nur Ting-Ting, die trotz ihrer engen Beziehung von Schuldgefühlen geplagt ist, harrt aus und versucht alles, um ihre Großmutter zurückzubekommen, während ihre Eltern beide zwischenzeitlich die Stadt verlassen: Min-Min kehrt bei einer Sekte ein, NJ trifft Sherry auf einer Geschäftsreise in Japan.

Gänzlich aus der Reihe tanzt hingegen Yang-Yang. Für das Zeremoniell um seine Großmutter hat er kein Verständnis. Im Schatten seiner auseinanderdriftenden Nächsten bahnt er sich seinen eigenen Weg durch die Familienkrise. Nachdem er seinen Vater damit löchert, wie er die Welt mit seinen Augen für andere einfangen kann, schenkt dieser ihm eine Kamera. Sein erstes Projekt: die Moskitos in der eigenen Wohnung zu fotografieren. In der Schule wird er für seine Eigensinnigkeit ausgelacht. Die Assoziation zwischen dem kindlichen Exzentriker und Edward Yang selbst drängt sich schon fast auf.

Doch Yang-Yang bleibt unbeirrt. Er übt sich weiter in Fotografie, verknallt sich nebenbei in seine Mitschülerin und übt im heimischen Waschbecken das Tauchen, um ihr zu imponieren. Als sein Vater aus Tokio zurückkehrt, findet er das neueste Fotoprojekt: die Hinterköpfe von Menschen.

Von Sentimentalität keine Spur

„Yi Yi“ ist nicht nur ein Familien-, sondern auch ein Generationendrama. Zwischen jenen Erwachsenen, die nur mit Scheuklappen nach vorne schauen können, weil die eigene Vergangenheit zu schmerzhaft ist, und ihren Kindern, die in einer orientierungslosen Welt früh heranreifen müssen. Ting-Ting nimmt die Sorgearbeit auf sich und Yang-Yang drückt in seinem poetischen Schlussmonolog letztlich das aus, was niemand zu Lebzeiten auszudrücken vermochte: Wertschätzung.

Taipei selbst gerät in dieser Geschichte, anders als in vielen von Edward Yangs Werken, quasi in den Hintergrund. Die Konflikte um Tod, Leben, Trauer, Liebe, Eifersucht und Nostalgie, die zwischen den Prot­ago­nis­t:in­nen verhandelt werden, sind zeitlos und spielen sich heute nahezu genauso ab.

Yi Yi ist nicht nur ein Familien-, sondern auch ein Generationendrama

Am vielleicht beeindruckendsten ist jedoch, dass Yang diese Charakterstudien filigran erzählt, ohne dabei je sentimental zu werden. Die Wertung überlässt er dem Publikum, genauso wie die Fülle an Emotionen, die er dabei heraufbeschwört.

Ergreifende kindliche Philosophie

Dass sein größter Erfolg auch sein letzter Film bleiben sollte, ist einem weiteren Schicksalsschlag geschuldet: Kurz nachdem er in Cannes für „Yi Yi den Preis für die beste Regie erhalten hatte, wurde bei ihm Darmkrebs diagnostiziert, dem er sieben Jahre später erlag.

Der Film

„Yi Yi“. Regie: Edward Yang. Mit Kelly Lee, Jonathan Chang u.a. Taiwan/Japan 2000, 173 Min.

Und so schwingen alle möglichen Gefühle mit, wenn wir die Jians nach drei Stunden wieder verlassen und womöglich die ein oder andere Träne kullert. Yang-Yangs kindliche Philosophie ist so ergreifend, weil sie sich an den kleinen Dingen des Lebens erfreut und Hoffnung stiftet, wo andere längst aufgegeben haben.

Hier kommen Tolstois und Yangs Charaktere wieder zusammen: Während Lewin sein Glück in der Religion und einem bescheidenen Leben findet, sind es für Yang-Yang Hamburger bei McDonaldʼs, Wasserballons und Fotos von Hinterköpfen. „Yi Yi ist Edward Yangs Testament an ein aufrichtiges Leben – und gehört deshalb zu den ganz großen Freuden.

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