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Tagebuch aus der UkraineUkrainer, die nach Westen gehen

Gerade junge Menschen haben Angst vor ihrer Einberufung. Schon Schüler suchen ihr Glück, indem sie ihr Land verlassen und in die EU einreisen.

Angst und der Gedanke ans Weggehen: junge Menschen bei der Beerdigung eines ukrainischen Soldaten, November 2025 Foto: Danylo Antoniuk/Anadolu Agency/imago

F rag niemals eine Frau, wie alt sie ist. Frag niemals einen Mann, wie viel er verdient. Frag niemals einen Ukrainer im wehrpflichtigen Alter, wie er in die Europäische Union gekommen ist.“ Dieser nicht allzu raffinierte Witz, der in ukrainischen Internetforen kursiert, illustriert recht gut eine aktuelle Diskussion: Sie handelt von denen, die die Ukraine verlassen haben, und von denen, die geblieben sind.

Neu ist die Tendenz, dass junge Menschen, die noch zur Schule gehen, das Land verlassen. Zunächst hat das Bildungsministerium in Kyjiw dieses Phänomen geleugnet. Doch obwohl ich selbst schon lange nicht mehr zur Schule gehe und keine Kinder habe, war es nicht schwer herauszufinden, dass dies tatsächlich stimmt: Etliche junge Menschen versuchen, die Ukraine zu verlassen, bevor sie volljährig sind.

Recht spät hat der Staat nach einer Lösung gesucht und einen Versuch unternommen. Am 28. August dieses Jahres beschloss die ukrainische Regierung, dass junge Menschen im Alter von 18 bis 22 Jahren ins Ausland reisen dürfen. Mit der Aussicht, als volljährige Person das Land legal verlassen zu können, sollen sie dazu bewegt werden, Schule und Universität in der Ukraine zu absolvieren.

Wolodymyr Selenskyj, der ukrainische Präsident, zeigte sich dabei optimistisch, dass diese Entscheidung seiner Regierung keinen Einfluss auf die Verteidigungsfähigkeit des Landes haben werde.

Angst vor Krieg und Mobilisierung

Aber wie sieht es in Wirklichkeit aus? Ich habe viele Freunde und Bekannte, die ihre Brüder im Krieg verloren haben. Die Angst ist verbreitet. Menschen, die noch nicht von der Mobilisierung bedroht sind, wollen die Chance auf ein besseres Leben nutzen. Es kam sogar so weit, dass junge Menschen bereit waren, Bestechungsgelder zu zahlen, um nicht eingezogen zu werden. Im kleinen Kreis sagen viele, dass sie hinsichtlich eines baldigen Kriegsendes pessimistisch sind. Das erklärt die denkbar deutlichste Abstimmung: die mit den Füßen in Richtung der westlichen Grenze.

Zuerst waren alle die gegangen, die konnten und die die Kraft dazu hatten. Niemand wusste, wo sich die russischen Truppen befinden würden, und es war schwer, sich die Entwicklung der Lage vorzustellen. Später stabilisierte sich die Situation. Die Ausreise wurde überlegter und besser vorbereitet. Das hielt aber nicht lange vor.

Bald nämlich ging es um die illegale Ausreise von Männern. Angesichts der Tatsache, dass die Ukraine damit begann, ihre westlichen Grenzen stärker zu bewachen, wurde es tatsächlich schwierig, das Land zu verlassen. Manchmal scheint es, dass die Ausreise ins Ausland zugleich ein Privileg, eine Selbstverständlichkeit, eine Chance und unsere gemeinsame Tragödie ist.

Die Wirtschaft beklagt sich über die Auswanderung junger Menschen. Ob Kellner oder Kurier, viele Arbeitskräfte sehen zu, dass sie das Land schon verlassen haben, bevor ihnen die Möglichkeit genommen wird, die Grenze frei zu passieren.

Was man gegen die Ausreisebewegung tun kann, wissen weder die Bevölkerung noch die Regierung. Vielleicht ist die Sorge um die demografische Zukunft eines der letzten Dinge, die in der Ukraine noch verbindend wirken können.

Bis dahin verlassen die Menschen weiterhin das Land.

Vasili Makarenko ist freier Autor aus Kyjiw und war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan.

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