Tagebuch aus Lützerath (5): „Das war so nicht abgemacht!“
Auf einmal befinde ich mich in einer Menschenkette. Die anderen um mich herum rufen Parolen. Und wieso hält die Polizei sich nicht an die Spielregeln?
V ermutlich sollte es einen nicht überraschen, dass in diesen Tagen in Lützerath jeder Morgen anders ist. Wenn das Dorf, in dem man lebt, von Polizist:innen umstellt ist, ein Bagger es auffressen will und die Bewohner:innen sich dagegen wehren. Mittwoch wehte nasskalter Wind mit 70 km/h über das Tagebauvorfeld, während die Aktivist:innen eine Holzbarrikade bauten, um die vorpreschenden RWE-Leute und Polizist:innen zu erinnern, dass die Räumung erst in ein paar Tagen stattfinden soll.
Heute, Donnerstag, ist es fast windstill, ich stehe in einer Menschenkette vor Polizist:innen neben der Barrikade, ein Bulldozer macht die Barrikade kaputt. „Gestern war das doch noch anders abgemacht!“, rufe ich in Richtung eines Polizisten. Mann ey, ich muss mir auch mal mehr Mühe geben, strenger zu werden. Die anderen rufen Parolen – und ich will die Polizei an Spielregeln erinnern.
„Keine Ahnung, war gestern nicht hier“, sagt der Polizist.
Dass die Lage seit Tagen immer ernster wird, spürt man bereits beim Frühstück. Mehr Löffelkratzen als Gespräche, aber die „Küfa“, die Küche für alle, tut, was sie kann. Es gibt immer warmen Haferbrei, aber einmal wurde er blau gefärbt, damit er nicht so grau aussah.
„Alles klar bei Ihnen?“
Mittwochmittag ruft jemand um Hilfe zum Tagebauvorfeld. Ich stelle mich auf den Wall. Die Aktivist:innen beginnen hektisch, Barrikaden zu bauen. Spielen Musik. Bürger:innen aus dem Umland versuchen, die Securityleute zum Desertieren zu ermutigen. „Diese Maschine zerstört auch eure Zukunft!“
Dass die Räumung erst frühestens in fünf Tagen beginnen soll, gilt zwar immer noch als abgemacht, aber auch, dass sich nicht spontan ein paar Dutzend Security-Beamte und Polizist:innen versammeln werden.
Heute sind die Barrikaden von gestern nur noch ein Müllhaufen. Ein Aktivist wird von einem RWE-Mitarbeiter geschubst. Es bildet sich abseits eine weitere Kette. Dann ein Schrei. „Du bist nicht allein!“, rufen die Leute vor mir. Der Aktivist liegt jetzt auf dem Boden, ein Polizist drückt seinen Kopf in den Dreck „Alles klar bei Ihnen?“, fragt der Polizist ihn. Vermutlich würde es ihm besser gehen, denke ich, wenn Sie ihm keine Kabelbinder anlegen würden. Und stehe doch nur wieder auf diesem Wall hinter den anderen. Wie gestern.
🐾 Das Tagebuch „Countdown Lützerath“ entsteht mit finanzieller Unterstützung der taz Panter Stiftung.
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