Tagebuch aus Estland: Bedrohliche Töne wehen über den Fluss
Die Narva trennt die gleichnamige estnische Stadt vom russischen Iwangorod. Das Gefühl der Angst ist dort gewachsen, auch unter Russ:innen.
N arva ist eine Stadt in Estland, in der etwa 85 Prozent der Bevölkerung Russ:innen sind und etwa ein Drittel russische Staatsbürger. Narva ist also russisch geprägt.
Dennoch wurden mit dem Beginn der groß angelegten Invasion der Russischen Föderation in die Ukraine im Februar 2022 die bis dahin üblichen und von der Stadt organisierten Feierlichkeiten zum 9. Mai eingestellt. Dabei lagen in Narva diese Feiern nach sowjetischem Vorbild, die immer am 9. Mai stattfanden, vielen Einwohnern der Region sehr am Herzen.
Zudem wurden in der Stadt Kriegsdenkmäler abgebaut, und die Polizei erinnerte am Vorabend des Jahrestages die Bevölkerung daran, dass Versammlungen „zur Unterstützung der Aggression“ und unter Verwendung von „Besatzungssymbolen“ unzulässig sind.
Damit sind sowjetische und russische Flaggen ebenso gemeint wie Symbole der Roten Armee oder etwa Georgsbändchen, mit denen unter anderem dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in der Sowjetunion hieß, gedacht wird.
Auch die Kreml-Propaganda bewirbt den 9. Mai in Iwangorod
Auf der anderen Seite des Flusses Narva, gegenüber der gleichnamigen Stadt, befindet sich Iwangorod. Es sind nur wenige hundert Meter zwischen dem jeweiligen Zentrum der estnischen und der russischen Stadt.
Seit zwei Jahren in Folge veranstalten die Russ:innen stets am 9. Mai auf ihrer Seite des Flusses Konzerte für die Bewohner:innen des Nachbarlandes. Militärlieder sind dann auf der estnischen Seite zu hören, vor allem an der Uferpromenade.
Für dieses Jahr, 2025, haben die russischen Behörden speziell für öffentliche Veranstaltungen unter den Mauern der Festung Iwangorod einen neuen Platz angelegt. Das Konzert am 9. Mai dieses Jahres verspricht in jeder Hinsicht ein großes Ereignis zu werden, auch die Kreml-Propaganda bewirbt es.
Estland nimmt eine Bedrohung wahr
Aber dieselbe Begeisterung, mit der etwa die ältere Generation der russischsprachigen Einwohner:innen Estlands, die oft nostalgisch auf die Sowjetzeit zurückblickt, bei früheren Anlässen reagiert hat, wird sich wohl kaum einstellen. Das liegt nicht an veränderten Ansichten einzelner Menschen, sondern eher an der Stimmung in der Gesellschaft insgesamt. Im Jahr 2025 sind große Teile der estnischen Bevölkerung davon überzeugt, dass die Truppen der Russischen Föderation durchaus die Grenze überschreiten und in die baltischen Staaten einmarschieren könnten.
Diese Bedrohung schien selbst im Frühjahr 2022 nicht als so real wahrgenommen. Das liegt wohl an der Intensität und Gnadenlosigkeit, mit der die russischen Truppen in der Ukraine kämpfen. Es dürfte auch an der Fülle von Geheimdienstinformationen liegen, die etwa zeigen, dass Russland an den Grenzen zu Finnland und Estland Eisenbahnlinien und Garnisonen baut. Die Gefahr, in der sich Estland befindet, ist im öffentlichen Bewusstsein angekommen.
Das scheint auch die Einstellung zu den Feierlichkeiten zum russischen „Tag des Sieges“ zu verändern. Am 9. Mai und an allen anderen Tagen steht das europäische „Nie wieder!“ im Vordergrund, wenn auch in einer altmodischen sowjetischen Formulierung: „Hauptsache, es gibt keinen Krieg!“
Alexey Schischkin ist Journalist aus St. Petersburg. Seit der russischen Invasion in die Ukraine lebt und arbeitet er im Exil in Estland. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan.
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