Synthie-Pop von Kaitlyn Aurelia Smith: Ich bin ein Gedanke
Die kalifornische Synthie-Künstlerin Kaitlyn Aurelia Smith spielt auf ihrem neuen Album „The Kid“ mit den Grenzen von Technik und Humanismus.
Sie fühlt, sie zweifelt, und doch ist Major Matoko Kusanagi eine Maschine. In menschlicher Gestalt ist sie zu Übermenschlichem fähig. Der Film „Ghost in the Shell“ projiziert über einen hochentwickelten und zugleich melancholischen Cyborg, dessen einzige menschliche Substanz das Gehirn eines verstorbenen Mädchens ist, was in der Philosophie bereits debattiert wird: Im Posthumanismus habe die biologische Menschheit den Gipfel ihrer Evolution erreicht, so die Auffassung. Die nächste Entwicklung von intelligentem Leben liege in den Händen künstlicher, computergestützter Intelligenz und das gegenwärtige Menschsein werde überwunden.
Das Motiv eines körperlosen, menschlichen Verstands, der in der Maschine seinen Organismus findet, entfaltet sich beim Hören des neuen Albums von Kaitlyn Aurelia Smith vor dem inneren Auge. Im Auftaktsong „I Am a Thought“ greifen flirrende Patterns aus warmen Synthesizerklängen ineinander wie sich verästelnde Dendriden von Nervenzellen. Man glaubt ein neuronales Sprühen zu hören. Erzeugt wird es von einem alten Buchla 100 Modular-Synthesizer, dessen metallischer Sound scheinbar noch das Glühen der Kabel in seiner gigantischen Apparatur transportiert.
Die kalifornische Musikerin verbindet auf ihrem neuen Album „The Kid“ Prototypen der analogen elektronischen Klangerzeugung wie den Buchla mit hochdifferenzierten Gestaltungsmöglichkeiten aktueller Hard- und Software. Von den 13 Tracks auf „The Kid“ sind elf veritable Popsongs. Zu deren vielschichtigen Sounds hat Kaytlin Aurelia Smith noch ein grundlegendes Ausdrucksmittel von Popmusik gefügt – ihre Stimme, setzt aber auch Instrumente wie Bläser und Streicher ein. „The Kid“ ist ihr viertes Studioalbum.
Smith studierte am Berkley College of Music in Boston Komposition und Aufnahmetecknik, spielte aber zunächst in einer Folkband, ehe sie zur elektronischen Musik fand. Bekehrt wurde sie von ebenjenem Buchla 100. Und so wie die Apparatur des Buchla aus vielen einzelnen, zusammengeschalteten Modulen besteht, sind auch Smith’ Songs quasi aus einzelnen Modulen aufgebaut. Kleinteilige Beats und flirrende Tonfolgen stapelt sie Schicht um Schicht zu einem voluminösen Arrangement übereinander. In zähen Melodien legt sie ihren Gesang über den rasanten, spitzen Sound ihrer Tracks.
Wie schon auf ihrem Album „Ears“ (2016) mischt, pitcht und dupliziert Smith auch für „The Kid“ ihre Stimme. Obwohl nur sie tatsächlich singt, erhebt sich immer ein Chor echter und synthetischer Stimmen, der sich schon in einem Ton von mehrstimmig zu einstimmig, von ganz weit zu ganz dicht wandeln kann.
Stets lässt Smith ihre Zuhörer im Ungewissen, ob sich die Erzeugung der Sounds noch in der physischen Welt oder schon im Digitalen abspielt. In den charakteristischen Klang eines Marimbaphons etwa im Track „To Follow and Lead“ hat Kaitlyn Aurelia Smith die natürliche Betonung eingefügt, die entsteht, wenn zwei Hände mit den Klöppeln tatsächlich auf die Holzklangstäbe schlagen – synthetisch oder echt?
Kaitlyn Aurelia Smith: „The Kid“ (Western Vinyl/Cargo)
Live: 20. November, Funkhaus Nalepastraße/Berlin
„The Kid“ ist ein tolles, sehr fein gearbeitetes Popalbum, aber es kann noch mehr: In seiner filigranen Verknüpfung von materiell und digital erzeugten Klängen, von organischen und maschinell-bearbeiteten Stimmen ist „The Kid“ auch ein musikalisches Philosophieren über sich auflösende Grenzen von Mensch und Technik.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid