Svenja Schulze über Wiederaufbauarbeit: „Frauen sind Teil der Lösung“
Wer Frauen unterstützt, hilft ihren Gesellschaften, meint Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze. Das gilt auch beim Wiederaufbau der Ukraine.
taz am wochenende: Frau Schulze, in der Ukraine tobt der russische Angriffskrieg, Russland ruft die Teilmobilisierung aus. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Deutschland – insbesondere das Entwicklungsministerium – setzt jetzt schon auf den Wiederaufbau. Ist das realistisch?
Svenja Schulze: Es geht jetzt vor allem um die Millionen Menschen, die innerhalb der Ukraine geflohen sind. Sie brauchen Strom, Wasser, Unterkünfte. Dieser Aufbau muss schon während des Krieges beginnen. Das ist ein Schwerpunkt unserer Unterstützung, ein zweiter ist es, die Sozialsysteme am Laufen zu halten. Viele Menschen können jetzt nicht arbeiten, sie haben keine Einkünfte – jedenfalls in weiten Teilen der Ukraine nicht. Das heißt, sie sind auf Leistungen des Staates angewiesen. Wenn die nicht mehr geleistet werden könnten, würde das die ukrainische Gesellschaft in einer entscheidenden Phase schwächen.
Was heißt das genau?
Wir helfen zum Beispiel dabei, Bankensysteme aufrechtzuerhalten. Ich habe in der Nähe von Lwiw eine Landwirtin kennengelernt, die wollte einen Speicher bauen, kriegt aber keinen Kredit mehr, weil in so einer Situation die Banken in der Ukraine schlecht bewertet werden. Dort versuchen wir auszuhelfen. Insgesamt haben wir schon 185 Millionen Euro an Sofort-Aufbauhilfen konkret eingesetzt, weitere 426 Millionen Euro sind zugesagt.
Die Ministerin
Svenja Schulze (SPD), Jahrgang 1968, ist seit Dezember 2021 Bundesentwicklungsministerin. In der Vorgängerregierung hatte sie das Amt der Bundesumweltministerin inne.
Das macht ihr Angst
Die Vorstellung, dass wir den Kopf in den Sand stecken.
Das gibt ihr Hoffnung
Es gibt unglaublich viele Menschen, denen es nicht egal ist, ob in ihrem T-Shirt Kinderarbeit steckt oder der Wald dafür abgeholzt wird. Das gibt mir Kraft und Mut.
Dennoch: Wiederaufbau in Kriegszeiten ist eigentlich unvorstellbar.
Es ist in der Tat kompliziert. Auch Korruption war in der Vergangenheit ein schwieriges Thema, mit dem wir umgehen müssen. Wir arbeiten sehr viel mit der kommunalen Ebene und mit mehreren Ministerien zusammen. Dieser dezentrale Ansatz hat sich gegen Korruption bewährt. Gleichzeitig stellen wir sicher, dass die Mittel, die an die Zentralregierung gehen, korrekt verwendet werden. Dazu arbeiten wir eng mit internationalen Partnern wie der Weltbank zusammen.
Ganz gleich, wann der Krieg zu Ende ist, die Ukraine wird ein Land von Kriegsversehrten sein. Viele Männer waren an der Front, kommen als Pflegefälle zurück. Ist der Wiederaufbau die Stunde der Frauen?
Es hängt viel davon ab, wie lange dieser Krieg dauert. An der rumänischen Grenze habe ich mit Frauen gesprochen, die aus der Ukraine geflohen sind. Die meisten wollen ja zurück, sie wollen wieder nach Hause. Ob das so kommt, kann im Moment niemand sagen. Aber klar ist: Frauen müssen beim Wiederaufbau ihre Perspektive einbringen, sie tun dies auch jetzt schon. Wir werden darauf achten, dass Frauen an allen Entscheidungen angemessen beteiligt werden. Und wir sehen, dass nicht nur die Männer, die gekämpft haben, Kriegsversehrte sind. Gewalt gegen Frauen und Vergewaltigungen kommen leider auch in diesem Krieg wieder vor. Deswegen ist es auch so wichtig, zum Beispiel Traumatherapien anzubieten, wie wir das mit Unicef zusammen tun. Das brauchen auch jene Frauen, die innerhalb der Ukraine geflohen sind. Auch sie haben solche Erfahrungen gemacht und brauchen diese Beratung.
Bei der Konferenz von Lugano, dem Auftakt zum Ukraine-Wiederaufbau, wurde Gleichberechtigung als ein Prinzip neben Rechtsstaatlichkeit oder Nachhaltigkeit aufgeführt. Gibt es feministische entwicklungspolitische Ansätze bereits in der Ukraine-Unterstützung?
Erfolgreiche Entwicklungsarbeit geht ran an die strukturellen Ursachen von Ungleichheit und wirkt über Jahre. Ganz akut unterstützen wir im Rahmen unseres Netzwerks für Frauen auf der Flucht Projekte von Frauen für Frauen, auch in der Ukraine und der Republik Moldau. So helfen wir Frauen auf der Flucht dabei, ihre Familien zu ernähren, von ihnen gegründete Unternehmen an neuem Ort aufzubauen und ihre Stimme so einzubringen, dass ihre besonderen Bedürfnisse gesehen und gehört werden. Dieser Blick ist mir wichtig – in der Ukraine, aber auch in anderen Weltregionen.
Woran denken Sie da?
Die Klimaveränderung führt zu massiven Problemen, gerade in der Sahelzone, in den Ländern Afrikas. Wenn die Felder von Landwirtinnen betroffen sind von Trockenheit, dann sind Frauen oft diejenigen, die als Erste aufgeben müssen, weil sie häufig keine Rechte an dem Land besitzen, das sie bewirtschaften. Deshalb bekommen sie keinen Kredit, wenn die Ernte vernichtet ist, und können kein neues Saatgut kaufen. Wir drängen darauf, dass Frauen Land besitzen dürfen und in einer Krisensituation dann auf ein Sozialsystem zurückgreifen können. Das nutzt den Ländern, denn Frauen kümmern sich in diesen Ländern traditionell um Ernährungsfragen. Wenn die Frauen aber durch mangelnde Rechte behindert werden, führt das letztlich dazu, dass Menschen hungern und die gesamte Gesellschaft leidet. Entwicklungspolitik kann nur dann erfolgreich sein, wenn Frauen Teil der Lösung sind. Sie brauchen mehr Rechte, mehr Repräsentanz, mehr Ressourcen.
In den Staaten, mit denen Sie arbeiten, ist es meist nicht Teil des Wertekanons, Frauen gleichberechtigt zu sehen. Wie gehen Sie damit um?
Wir müssen in diesen Ländern die Rechte von Frauen stärken, weil das die Weiterentwicklung dieser Gesellschaften ermöglicht. Wenn diese Diskussion mit den Regierungen nicht möglich ist, dann arbeiten wir regierungsfern mit Nichtregierungsorganisationen zusammen. In Bangladesch etwa haben wir ein Projekt, mit dem wir Frauen als Arbeitnehmerinnen in der Textilindustrie stärken. Wir müssen dafür sorgen, dass sie mehr Rechte in den Betrieben bekommen und sich besser vernetzen.
Bei Ihrem Vorgänger Gerd Müller (CSU) lag der Fokus auf wirtschaftlicher Stabilität. Sie setzen jetzt zusätzlich noch auf einen feministischen Wertekanon. Ist das nicht etwas vermessen?
Menschenrechte sind nicht vermessen, sondern elementarer Bestandteil von Entwicklungspolitik. Wenn es der Hälfte der Bevölkerung, also den Frauen schlecht geht, dann geht es den Gesellschaften insgesamt nicht gut. Das ist kein Überstülpen von Werten, sondern das sind Menschenrechte, die gelten auf der ganzen Welt. Es geht um elementare Zugänge zu Geld, zu Rechten, zu Land, zu Gesundheitsversorgung, zu Bildung.
Dazu brauchen Sie Geld. Im aktuellen Haushaltsentwurf wurden aber Mittel für die Organisation UN Women gekürzt.
Dieses Jahr ist es dafür gelungen, aus Sondermitteln so viel wie nie zuvor für UN Women bereitzustellen. Über UN Women hinaus wird es zudem deutliche strukturelle Veränderungen geben. Ich habe für mein Ministerium neue Quoten festgelegt, wonach der Anteil von Projekten für Geschlechtergerechtigkeit in den nächsten Jahren deutlich steigen wird. Aktuell fließen rund 60 Prozent der bilateralen Projektmittel meines Ministeriums in Projekte, die die Gleichberechtigung der Geschlechter berücksichtigen. Da geht es etwa darum, bei Klimaschutzprojekten die Interessen der Frauen von Anfang an mitzudenken. Diese Quote will ich bis 2025 schrittweise auf 85 Prozent steigern. Damit wären wir international wieder in der Spitzengruppe. Bei den Projekten, die sich hauptsächlich der Geschlechtergerechtigkeit widmen, will ich den Anteil von heute 4 auf 8 Prozent steigern.
Warum war in den Haushaltsverhandlungen nicht mehr zu holen? War Christian Lindner zu hart oder Sie zu schwach?
Wenn der Haushalt insgesamt um 10 Prozent schrumpft, weil wir die Schuldenbremse wieder haben, gibt es wenig Spielraum. Man muss mit den Gegebenheiten klarkommen. Dass ich für mehr Geld kämpfe, ist selbstverständlich, weil ich die globalen Krisen jeden Tag sehe. Ich rechne damit, am Ende in erheblichem Umfang auf die 5-Milliarden-Euro-Haushaltsreserve zugreifen zu müssen, die die Bundesregierung dafür beschlossen hat. Denn wir werden in dieser Weltlage zusätzliche Mittel brauchen, um Deutschlands Anteil an der Bewältigung der globalen Krisen zu leisten.
Im Koalitionsvertrag gibt es die Vereinbarung, für jeden Euro mehr Verteidigung auch einen Euro mehr für die Entwicklung auszugeben. Eigentlich ein starkes Argument.
Das ließ sich bisher nicht durchsetzen.
Die Ampel hatte geplant, den Sicherheitsbegriff größer zu denken. Jetzt geht es um Remilitarisierung.
Im Koalitionsvertrag hatten wir einen Krieg mit all seinen Folgen nicht eingepreist. Wir arbeiten jetzt im Krisenmodus. Und ich bin froh, dass wir nicht die gleichen Kämpfe haben wie in der letzten Regierung. Olaf Scholz sorgt dafür, dass Konflikte innerhalb der Koalition gelöst und nicht öffentlich ausgetragen werden. Die Nationale Sicherheitsstrategie ist weiter in der Diskussion. Dazu gehört nicht nur die militärische Sicherheit, sondern auch die menschliche Sicherheit. Was wir in der Entwicklungspolitik machen, ist Präventionsarbeit und vermeidet Konflikte auf längere Sicht.
Ein Krisenherd ist nach wie vor Afghanistan. Noch immer fordern viele Menschen, die auch für das Entwicklungsministerium oder zugehörige Organisationen gearbeitet haben, Unterstützung und Aufnahme. Sind Sie da dran?
Wir haben bisher rund 11.000 Ortskräfte aus der Entwicklungszusammenarbeit mit Familienangehörigen nach Deutschland geholt – und sind weiter dabei, gefährdete Menschen zu retten. Aber bei Weitem nicht jeder, der für Deutsche gearbeitet hat, wird deshalb verfolgt und ist unmittelbar gefährdet. NGOs, deren Arbeit in Afghanistan wir finanzieren, stellen aktuell ja auch wieder nationale Beschäftigte an. Das würden sie nicht tun, wenn es systematische Verfolgung gäbe.
Im Koalitionsvertrag sind ein Aufnahmeprogramm und eine Reform des Ortskräfteverfahrens vereinbart, um mehr Gefährdeten zu helfen. Wie ist der Stand der Gespräche?
Das neue Aufnahmeprogramm zielt ja gerade nicht auf Ortskräfte, sondern auf die, die keine Ortskräfte waren und zugleich sehr gefährdet sind. Menschenrechtsverteidigerinnen oder frühere Staatsanwältinnen zum Beispiel. Die Gespräche zwischen den Ressorts und der Zivilgesellschaft sind schon weit fortgeschritten.
Es gibt Mitarbeiter*innen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, die zum Teil nachweislich bedroht sind und trotzdem keine Hilfe aus Deutschland erhalten.
Wie gesagt: Wir haben 11.000 Menschen rausgeholt und unternehmen weitere Anstrengungen. Es werden aber auch Anträge abgelehnt, weil immer individuell geprüft wird: Haben diese Menschen für uns gearbeitet und sind sie deshalb gefährdet? Das finde ich sinnvoll. Wir können nicht alle, die in Afghanistan gute Arbeit geleistet haben, rausholen – so bitter das für die Einzelnen ist. Aber das Land besteht auch nicht nur aus Ortskräften, als Entwicklungsministerin werbe ich dafür, auch an die vielen anderen zu denken. Dort hungern Menschen, vor allem Frauen und Kinder. Wir lehnen die Taliban ab, aber diese Menschen brauchen dringend Hilfe.
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