Superstars zum Identifizieren: Feministische Held*innen
Die US-Band Boygenius ist eine der populärsten Vertreterinnen der Sad-Girl-Szene. Neben Weltschmerz besingen sie aber auch politische Missstände.
Sie war echt. Auf der Bühne stand Phoebe Bridgers. Die Stehplätze vom Tempodrom in Berlin waren letzten Sommer ausverkauft, im Publikum drängten sich Tiktok-Teenager an Millennial-Eltern vorbei, um ihr so nah wie möglich zu sein.
„Für mich war es ein spiritueller Moment“, berichtet Anne, die sich an das Solo-Konzert erinnert. „Ich habe geheult“, erzählt Laura, auch ein Fan. Beim Konzert wurde viel geschrien, gejubelt und geweint. Songs mussten unterbrochen werden, weil Fans in Ohnmacht fallen. Es wurden Wasserflaschen im Publikum verteilt und Phoebe Bridgers bat darum, aufeinander achtzugeben und sich sofort bemerkbar zu machen, falls es einem nicht gut gehe.
Anne besuchte neben dem Konzert in Berlin noch ein weiteres in Köln, Laura in Hamburg. Schon bei ihrer Solo-Tour waren Fans Phoebe Bridgers noch in weiteren Distanzen von Konzert zu Konzert hinterhergereist. Eine von ihnen erkannte Bridgers in der ersten Reihe. Bei der Zugabe ließ sie ihr den Wunsch frei, was sie spielen soll. Sie wünscht sich „Me & My Dog“, ein gemeinsamer Song von Phoebe Bridgers, Julien Baker und Lucy Dacus, die sich boygenius nennen. Phoebe Bridgers spielte an diesem Abend den Song allein, das Publikum sang textsicher mit.
Nicht nur wegen der Hitze in der Halle wurden Fans bewusstlos. Viele konnten es nicht glauben, Bridgers live zu sehen, in echt. Die Musikerin feierte mit ihrem zweiten Studioalbum „Punisher“ den musikalischen Durchbruch.
Meilenstein der Karriere
Das Album erschien im Juni 2020, im ersten Corona-Jahr. Mit der Mischung aus Rock und Folk und sehr viel Weltschmerz wurde es zum Soundtrack der Pandemie. Auf Tiktok werden seitdem ununterbrochen Videos mit Songschnipseln von Bridgers unterstrichen oder Konzertausschnitte gepostet.
So wissen Fans, dass der 24. Juni 2022 ein Scheißtag für Phoebe Bridgers war. Dabei feierte sie einen großen Meilenstein in ihrer musikalischen Karriere: Das erste Mal Glastonbury Festival. Es ist surreal für sie, hier auf Bühne zu stehen, doch der Tag war trotzdem scheiße, erzählt sie in einer Zwischenansprache auf der Bühne. Stunden vor ihrem Aufritt wurde vom Obersten Gericht in den USA offiziell das landesweite, über Jahrzehnte bestehende Recht auf Abtreibung gekippt.
Sie bezeichnet die Richter als „irrelevante alte Männer, die versuchen uns vorzuschreiben, was wir mit unseren Körpern tun sollen“ und rief „Fuck the Supreme Court!“, bevor sie das Publikum animierte, die Worte zu wiederholen.
Die riesige Menge rief das Statement zurück und bejubelte die Musikerin. Abtreibungseinschränkungen thematisiert die Kalifornierin zu diesem Zeitpunkt bereits seit Monaten in Interviews und auf Konzerten. Vor ihrem Song „Chinese Satellite“ spricht sie regelmäßig über ihre eigene Abtreibung und sagt, dass sie die Entscheidung aus einer sehr privilegierten Position treffen konnte.
Aufgewachsen mit Taylor Swift
Ihre Songtexte und politischen Statements machten sie zur wohl populärsten Ikone der Sad-Girl-Indie-Szene. Die Hörer:innen dieser Subkultur sind jung und oft queer, haben Elliott Smith, Jeff Buckley und Mazzy Star durch Musiker:innen wie Weyes Blood, Mitski und Adrianne Lenker kennengelernt.
Aufgewachsen sind viele mit der Musik von Taylor Swift. Sad Girls sind nicht unbedingt introvertiert, die Subkultur lebt auch weniger von klaren Dresscodes als davon, dass jede:r sich selbst so entfalten soll, wie man sich wohl fühlt. Gemeinsam mit Julien Baker und Lucy Dacus bildet Phoebe Bridgers als boygenius die Superheld:innen-Allianz der Sad-Girl-Szene. Was Phoebe Bridgers letztes Jahr mit ihrer Solotournee ausgelöst hat, wird dieses Jahr mit der Band multipliziert.
Während Floridas Gouverneur Ron DeSantis mit dem „Don’t say gay-“Gesetz versucht, Unterricht über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität in Schulen zu verbieten, thematisieren boygenius im diesjährig erschienenne Debüt-Studioalbum „The Record“ Freundschaften und queere Beziehungen. Im Gegensatz zu anderen Mainstream-Künstler:innen, die sich nicht trauen, rotzige Texte zu schreiben, sondern nur mit kryptischen Zeilen und performativen Regenbogen-Musikvideos die queere Community anflirten, provozieren boygenius.
So singen sie in ihrem Song „Satanist“: „Willst du mit mir ein Anarchist sein, in Autos schlafen und die Bourgeoisie töten?“. Live rufen sie zu dritt „Abortion rocks, and fuck Ron DeSantis““ wie auf dem diesjährigen Coachella Festival.
Protest gegen Kulturkampf
Oder sie treten in weniger liberalen Gegenden wie Tennesse in Dragkleidung auf, als Protest zum geplanten Anti-Drag-Gesetz des Staates.
In ihrem Protest gegen den Kulturkampf der Republikaner lassen sie sich trotzdem nicht von den Demokraten instrumentalisieren: Als ihr Hit „Not Strong Enough“ in der jährlichen Sommer-Playlist des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama aufgelistet wurde, kam die einzige Reaktion von Bandmitglied Lucy Dacus, die auf Obamas Tweet mit den Worten „War criminal“ reagiert.
Durch Anstiftung zum Stänkern sind die drei Frauen Idole geworden, ihr Erfolg lässt sich nicht nur an einem Vertrag mit dem Major-Label Universal Music erkennen.
In Berlin und Köln werden am 15. und 16. August tausende Fans auch hier Konzerte von boygenius bewundern. Beide Hallen sind bereits lange ausverkauft. Neben ausgelassenen Rockshows können sich Fans auch auf die Ansprachen freuen, die sie sonst nur im Internet sehen.
„Wenn ich sowohl in die Crowd als auch auf die Bühne schauen kann und tausende Menschen sehe, mit denen ich mich sicher fühle und diesen Moment teile, wird es mir viel Energie geben“, erzählt Fan Anne mit Vorfreude.
Die Energie von boygenius ist wichtig. In Zeiten, in denen Politiker:innen wie CSU-Bundestagsabgeordnete Dorothee Bär, Andreas Scheuer und Florian Hahn in die USA fliegen, um schmeichelnde Bilder mit Robert DeSantis zu machen und weitere den antifeministischen Kulturkampf aus den USA nach Deutschland importieren, brauchen Menschen Superstars, mit denen sie sich identifizieren können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?