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Suche nach vergessenem NobelpreisträgerRauschen nach dem Weltgefühl

„Am Götterbaum“ heißt der neue Roman von Hans Pleschinski. Er begibt sich auf die Spuren des vergessenen Literatur­nobelpreis­trägers Paul Heyse.

Erhielt 1910 den Literaturnobelpreis: Paul Heyse in einer Fotografie von Franz Hanfstaengl von 1870 Foto: Gebhardt/imago

Vernichtender kann ein Urteil über ein künstlerisches Werk nicht ausfallen. „Als Persönlichkeit und Charakter war er untadelig“, war 1963 in Albert Soergels und Curt Hohoffs seinerzeit als Standardwerk geltendem Buch „Dichtung und Dichter der Zeit“ über den Schriftsteller Paul Heyse (1830–1914) zu lesen. Wenn dessen Literatur dann die Zensur „epigonal“ verpasst wurde, war das durchaus repräsentativ auch für andere Literaturgeschichten und zudem für namhafte Kollegen.

Kurt Tucholsky fertigte eine freche Parodie eines Heyse-Gedichtes an, Arno Schmidt befand die Heyse-Literatur für „Zuckerwasser“ und Ortrud Vandervelt urteilt nicht minder hart: „Formvollendete Leere“. Im Gegensatz zu den Vorgenannten ist sie allerdings Fiktion: Ortrud Vandervelt heißt eine der Hauptfiguren in Hans Pleschinskis neuem Roman „Am Götterbaum“.

Pleschinski geht es nicht nur darum, uns Heyse näherzubringen, er erklärt auch dessen Ruhm aus den Bedingungen der damaligen Zeit

Dass sie über dessen ganze Strecke in ihrem Urteil nicht schwanken wird, kann gegen das Gelingen des Romans sprechen, der versucht, eine Lanze für Heyse zu brechen, aber auch gegen die Qualität des Heyse-Werks. Dass dessen Schöpfer entgegen anderslautender Behauptungen nicht wirklich in Vergessenheit geraten ist, hat einen einzigen Grund: Im Jahr 1910 erhielt Heyse als erste Persönlichkeit der deutschsprachigen Literatur den Nobelpreis zugesprochen, allein das sichert ihm ein gewisses Weiterleben.

Von seinem ausufernden Œuvre allerdings, immerhin rund 180 Novellen, dazu Romane, Theaterstücke, Lyrik, ist im öffentlichen Bewusstsein tatsächlich nichts mehr lebendig. Auch nicht in München, dessen literarische Kultur Heyse laut Hans Pleschinski überhaupt begründet hat.

Was abseits schlummert

Kaum jemand ist prädestiniert, eine solche an den Rand der kollektiven Erinnerung gedrängte Figur zu vergegenwärtigen, wie Pleschinski: „Abseits schlummert das Interessanteste“, lässt er eine Figur sagen, und das ist programmatisch.

Seit seinen Anfängen hat der 1956 in Celle geborene, seit Langem in München lebende Autor und Herausgeber ein Faible für ungewöhnliche Persönlichkeiten und Stoffe der deutschen Kultur- und Literaturgeschichte an den Tag gelegt, zudem eines für Literaturnobelpreisträger. In seinen letzten beiden Romanen, „Königsallee“ (2013) und „Wiesenstein“ (2018), ging es um Thomas Mann und Gerhart Hauptmann.

Während Ersterer noch sehr, Letzterer zumindest in Form von Schullektüre („Bahnwärter Thiel“) präsent ist, muss Heutigen erklärt werden, um wen es sich bei Paul Heyse handelt. Pleschinski entledigt sich dieser Aufgabe auf ungewöhnliche Weise, einen konventionellen biografischen Roman zu schrei­ben liegt ihm fern.

Dass er dazu locker in der Lage wäre und wie das Resultat aussehen könnte, demonstriert er gegen Ende seines Romans wie beiläufig in einem Kapitel, in dem im Stil einer klassischen Künstlernovelle der alternde Heyse in Szene gesetzt wird: Im Garten seiner Villa am Gardasee plagt er sich mit einem Text, die Feder will nicht mehr so recht fließen, und Heyse kann auch nicht mehr verdrängen, dass er den Anschluss an den Zeitgeist zu verlieren droht.

Ein wundersames Buch

Nur in diesem Exkurs begegnet uns Heyse live, ansonsten ist er mittelbares Thema eines wundersamen Buches, dessen Handlung überschaubar ist. Im München der Jetztzeit treffen sich am Marienplatz drei Frauen: Die erwähnte Autorin Vandervelt, die ambitionierte, aber ungelesene (und vermutlich auch unlesbare) Bücher schreibt, kommt soeben von einer Russlandreise zurück, die sie auf Einladung des Goethe-Instituts unternommen hat.

Therese Flößer ist Bibliothekarin und Mitarbeiterin des Literaturarchivs Monacensia, eine Heyse-Kennerin und resolute Oberbayerin. Schließlich die hypochondrische Antonia Silberstein, die als Stadträtin eine besondere Mission hat: Die Stadt überlegt, Heyses ehemaliges Wohnhaus zu einem Kulturzentrum umzugestalten.

Das Buch

Hans Pleschinski: „Am Götterbaum“. C.H. Beck, München 2021, 277 Seiten, 23 Euro

Gemeinsam spaziert das zur Expertise berufene Trio zu dieser zweiten Heyse-Villa, die Route führt vom Rathaus über Theatinerstraße und Königsplatz zur Villa in der Luisenstraße. Rund die Hälfte des Romans folgt den drei Frauen auf ihrem Weg und protokolliert ihre Unterhaltungen, die sich vor allem, aber nicht nur, um Heyse drehen.

Der Archivarin kommt der Part der Heyse-Referentin zu: Sie informiert ihre Begleiterinnen und mithin uns als Leserschaft nicht nur über des Dichters Lebensdaten, sondern hat auch Bücher im Rucksack, aus denen sie Heyse-O-Ton vorträgt. Am Königsplatz treffen die drei auf den aus Erlangen angereisten Germanisten Prof. Bradford, die weltweit führende Heyse-Koryphäe schlechthin, und dessen Mann, einen chinesischen Schönheitssalon-Betreiber.

Die ominöse Villa

Am Ende wird dieses eigenwillige Team tatsächlich Zutritt zu der ominösen Villa finden, in der zu Heyses Zeiten alles zu Gast war, was Rang und Namen hatte: von berühmten Kollegen wie Fontane und Ibsen bis zur Kaiserin Sisi.

Heyse war ein Star seiner Zeit, ein Hofdichter von Weltrang. Umso größer die Fallhöhe: Die von Pleschinski zitierten Texte waren seinerzeit eminent populär, wirken aber, auch wenn Pleschinski sie offensichtlich rehabilitieren will, in ihrem altmodischen Ton fürwahr nur epigonal: „Waldesnacht, du wunderkühle, / Die ich tausend Male grüß’ / Nach dem lauten Weltgewühle / O wie ist dein Rauschen süß!“

Da hilft es auch nicht, dass Heyse uns als in der Tat untadeliger Charakter ans Herz gelegt wird: engagiert für Frauenrechte und gegen Antisemitismus, und trotz eines fixen Salärs als Hofpoet ein unabhängiger Freigeist.

Allerdings geht es Pleschinski nicht nur darum, uns diesen Heyse näherzubringen, vielmehr erklärt er dessen Ruhm auch aus den Bedingungen der damaligen Zeit, deren Ambivalenz Pleschinski mit wenigen Strichen skizziert – hier eine nachhallende Biedermeier-Kultur, die Heyse repräsentiert, dort Industrialisierung, Verstädterung und die Menetekel all der Konflikte, die das 20. Jahrhundert prägen würden.

Geht's um München?

Darüber hinaus – und manchmal beschleicht einen sogar das Gefühl, darum sei es vor allem gegangen – ist „Am Götterbaum“ ein farbiger München-Roman. Immerhin passieren die Heyse-Experten besonders prägnante Münchner Örtlichkeiten: die Theatinerkirche, die Feldherrnhalle, das NS-Dokumentationszentrum … Und überall finden sich Anlässe, Anekdoten, Wissenswertes, Beobachtungen zum Besten zu geben.

Ob das auch immer zum Besten des Romans gedeiht? Nicht nur wenn Pleschinski ins sanft Satirische schwenkt, indem er sein Personal Erscheinungen des zeitgenössischen Alltags kommentieren lässt, tendiert er zu einem betulichen („Die Martinshörner verklangen. Bedrohten wünschte man Rettung“), manchmal sonderbar uneleganten Stil: „Die dreiundsechzigjährige Kommunalpolitikerin schlug den Kragen hoch“ … So etwas ist man von diesem umtriebigen und preisgekrönten Autor durchaus gewohnt, im „Götterbaum“-Roman wirkt es jedoch anachronistisch, weil es immer wieder mit Heyses Prosa, ihren Arabesken und Schnörkeln, in Dialog tritt, was eine merkwürdige, vermutlich nicht parodistisch gemeinte Wirkung erzielt.

Allerdings passt dieser unzeitgemäße Ton zum Personal. Abgesehen vom etwas gelangweilten, allenfalls mitunter staunenden Chinesen verkörpern alle eine Denk- und Lebensweise, die nicht mehr vom gegenwärtigen Weltgewühl zu sein scheint. Das braust um sie herum, begreifen, gar teilen können die drei Damen und der Germanist es nicht mehr so recht.

Der Investor – wie in der Realität

Dass sie damit wiederum die Befindlichkeit des alternden Heyse spiegeln, illustriert, dass der Roman durchaus kunstvoll angelegt ist. Im Übrigen ist er nicht ohne eine gewisse Spannung: Die Frage, was es mit der Heyse-Villa auf sich hat, ob sie bewohnt ist und von wem, zieht sich bis zum Ende des in einer hübschen Pointe mündenden Romans.

Auch dabei korrespondiert das Buch mit der Realität: Lange vom Abriss durch einen Investor bedroht, ist das Haus nach zähem bürgerschaftlichem Engagement offensichtlich gerettet, was aus ihm wird, scheint aber immer noch nicht festzustehen. So wäre „Am Götterbaum“ am Ende auch eine epische Parteinahme zur Münchner Art, mit Geschichte und Schönheit zu verfahren.

„Das ist alles sehr komplex mit Heyse“, bemerkt irgendwann die Stadträtin. Man sieht: Mit Pleschinskis Roman verhält es sich ähnlich.

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