Kosmopolitische Übersetzerin Viragh: Die dritte Heimat
Manchmal hätte sie Nádas „Parallelgeschichten“ am liebsten aus dem Fenster gepfeffert. Nun ist Christina Viragh für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Rechts liegt die Arbeit, links ist die Tür zum Himmel – auf dem Balkon blühen die ersten Veilchen. Milde Märzluft weht herein und der Lärm von Vespa-Motoren und Polizeisirenen. Christina Viraghs Schreibtisch steht in einer Wohnung im sechsten Stock mitten in Rom, hoch über den Dächern der Stadt.
Drinnen lenkt nicht viel von der Arbeit ab: Der Tisch ist aus Glas, der Stuhl davor schmal, pink und wippt ein bisschen. Ein Computer, Kunstpostkarten, Bücherregale. Daneben noch ein Schreibtisch, aus weißem Holz, fast leer bis auf eine Ausgabe der „Parallelgeschichten“ des Ungarn Péter Nádas, auf Deutsch, ihr Werk. Das Buch, eine Drohung, ein Seufzen, ein Triumph.
Die 1.724 Seiten des Buches hat Christina Viragh an diesem Schreibtisch übersetzt, fünf bis zehn Buchseiten nahm sie sich am Tag vor, fünf bis acht Stunden arbeitete sie konzentriert. Mal flutschte es, mal hakte es, dann war der Rand voll von Fragezeichen. Vier Jahre dauerten: Übersetzung, Recherche, Überarbeitung. Und wo immer in den deutschen Feuilletons Nádas’ Roman als Jahrhundertbuch gefeiert wird, wird ihre klare, poetische Übersetzung gepriesen. Sie ist eine von fünf für den diesjährigen Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse Nominierten, der am Donnerstag vergeben wird.
Die Person: Christina Viragh, 1953 in Budapest geboren, emigriert mit sieben mit ihrer Familie in die Schweiz. Seit 1993 lebt sie als Schriftstellerin und Übersetzerin in Rom. Sie gab ungarischen Autoren wie Sándor Márai und Imre Kertész eine deutsche Stimme.
Die Nominierung: Für ihre Übertragung von Péter Nádas’ „Parallelgeschichten“ ins Deutsche ist Viragh für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung nominiert, neben Hans Pleschinski („Nie war es herrlicher zu leben: Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croy 1718–1784“, aus dem Französischen), Nikolaus Stingl („Der Tunnel“ von William H. Gass, aus dem Englischen) Caroline Vollmann („Mademoiselle de Maupin“ von Théophile Gautier, aus dem Französischen), Thomas Frahm („Feuerköpfe“ von Vladimir Zarev, a. d. Bulgarischen).
Allein durch seinen Umfang flößt das Buch Furcht ein. Auch Christina Viragh musste ein paar Tage überlegen, ob sie den Auftrag annehmen – und damit die eigene schriftstellerische Arbeit hintanstellen – sollte. „Mich reizte dann aber die Herausforderung, etwas so Großes zu übersetzen – und etwas Zeitgenössisches“, sagt sie. Bislang war die 59-Jährige auf die ungarische klassische Moderne spezialisiert, hat Imre Kertész, Sándor Márai und Antal Szerb übersetzt.
Der Austausch mit dem Autor
Die „Parallelgeschichten“ waren auch eine Chance, wieder mit Péter Nádas zusammenzuarbeiten, dessen Buch „Liebe“ sie in den 1990er Jahren ins Deutsche übertragen hatte. Im Oktober 2007 unterschrieb sie also den Vertrag, im Dezember 2011 machte sie die letzten Korrekturen. Dazwischen gab es unzählige Telefonate und E-Mails zwischen Rom und Gombosszeg in Westungarn, wo Nádas lebt. Und vor ziemlich genau zwei Jahren saßen die beiden in Viraghs Arbeitszimmer, und gingen all die Kreuzchen und Fragezeichen durch, die die Übersetzerin am Rand des Originaltextes vermerkt hatte.
Wie übersetzt man elörejelzö frízeket, wörtlich: „vorankündigende Friese“, wie all die Fachbegriffe aus der Musik, wie die Details der ausgedehnten erotischen Szenen des Buches? Nádas erklärte architektonische Hintergründe, schenkte ihr eine CD mit der Aufnahme eines Meisterklassenunterricht der Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf, damit sie ein Gefühl für das bekäme, was ihn inspiriert hatte. Und das explizit Sexuelle, das in dem Roman eine große Rolle spielt, erörterten sie ohne Erröten.
Zweimal war der ungarische Autor für eine Woche bei ihr in Rom. Die enge Zusammenarbeit hat sie sehr genossen, sagt Christina Viragh. Sie sitzt nun in dem kleinen Wohnzimmer auf dem Sofa mit dem farbenfrohen Überwurf, sie trägt Schwarzgrau, ihr Haar hat die gleiche Farbe. Zwei Hunde bewachen das Gespräch.
Denken auf Schwyzerdütsch, verliebt in Rom
Seit 17 Jahren lebt sie in der Dachwohnung, es war ihre erste in Rom, nach ihrem einjährigen Stipendium am Schweizer Institut. Damals hat sie sich „heftig in die Stadt verliebt“, in ihre organische Schönheit, die gewachsen, durchlebt, durchströmt ist. Und auch wenn sie mit ihrer mitteleuropäischen Melancholie gar nicht so recht nach Italien passe, der Rhythmus der Stadt liege ihr. Rom wurde einer ihrer Heimatorte. Man muss auf dieses Wort ausweichen, denn einen Plural von Heimat gibt es nicht.
Für Christina Viragh schon. 1953 wurde sie in Ungarn geboren, als sie sieben Jahre alt ist, emigriert die Familie nach Luzern, ihr Deutsch hat Schweizer Akzent. Budapest, Luzern, Rom, sie fühlt sich dort überall zu Hause, sagt Christina Viragh, „in verschiedenen Schattierungen“. In Schwyzerdütsch denkt sie, Ungarisch ist ihre Muttersprache, Italienisch ihre Alltagssprache, ihr Partner ist Italiener.
Wenn sie mit ihm oder mit dem römischen Fotografen spricht, ist sie sprudelnder, offener als im Interview auf Deutsch, wo sie in längeren Pausen ihre Antworten bedenkt. Sie ist sehr genau, ihr Ernst wird von staunendem Lachen unterbrochen. Geschrieben haben in ihrer Familie alle irgendwie, die Mutter veröffentlichte als junge Frau ein, zwei Bücher. Mit zehn Jahren sagte Christina Viragh zur ihren Spielkameraden auf der Straße: „Ich werde Schriftstellerin.“ Und als solche hat sie sich immer verstanden.
Übersetzerin und Schriftstellerin zugleich
Fünf Romane hat sie veröffentlicht. Emigrationserfahrungen spielen darin eine Rolle. Das Verwinkelt-Verwobene, die wechselnden Perspektiven und der exakte Blick lassen ihr Schreiben und das von Nádas verwandt erscheinen. Die poetischen Beschreibungen waren es, die sie besonders gern übersetzt hat – wie ist das Licht, die Atmosphäre des Moments. Und gerade bei den Sexszenen, eine weit mehr als hundert Seiten lang, bewundert sie das: „Sein Blick ist sehr genau und liebevoll, nie voyeuristisch. Das Gefühl für das, was den Moment begleitet, geht nie verloren, etwa für das Parkett, das unter den Schritten knarrt.“
Anfangs dachte sie noch, sie werde gleichzeitig an den „Parallelgeschichten“ und ihren eigenen arbeiten können, doch der Nádas nahm sie ganz in Anspruch. Das Zuger Übersetzerstipendium unterstützte sie mit 50.000 Franken, sodass sie sich ganz auf den Roman konzentrieren konnte. Dieses Netz aus Geschichten, gesponnen über einen Zeitraum von 60 Jahren – Naziterror und Konzentrationslager, Ungarn-Aufstand 1956, Berlin 1989 –, manchmal verlor sich auch Christina Viragh darin und Nádas musste ihr erklären: Wo sind wir nun genau?
Es gab schon Momente, wo sie das Buch am liebsten aus dem Fenster geworfen hätte. Immer mit dem Rhythmus des Textes mitgehen, sagte sie sich, bloß nicht springen zu einer anderen Stelle, die vielleicht leichter zu übersetzen ist. „Das ist gefährlich“, sagt Christina Viragh, „denn dann ist man seinen eigenen Vorlieben ausgeliefert.“
Auch sie spielte in ihrem letzten Buch, „Im April“ (2006), mit den Zeitebenen, sprang in ihrer Geschichte rund um eine Schweizer Wiese vom 15. ins 21. Jahrhundert, in die zwanziger Jahre und zurück – das Interesse für Zeitschichten, wie sie ineinandergreifen, wie wirksam und präsent die Vergangenheit ist, teilen sie und Nádas. Aber das Ungarische verschleiert noch mehr.
„Das Ungarische verlangt ein intuitiveres Lesen“
„Die Sprache ist unglaublich kompakt, und besonders so, wie Nádas das ausnutzt, ist es schwierig, zu wissen: Wer spricht wo, wann und warum“, erklärt Viragh. Eine andere Eigenheit des Ungarischen ist, dass man mit nur einem Wort ausdrücken kann, wozu man im Deutschen viele Wörter braucht. Partizipialkonstruktion reiht sich an Partizipialkonstruktion, lange kommt weder Subjekt noch Verb, und es ist oft nicht eindeutig, wer da was tut. „Das Ungarische verlangt ein intuitiveres Lesen“, sagt die Übersetzerin.
Es erlaubt dem Autor aber auch, eine größere Intimität, eine Nähe zum Leser aufzubauen. In der Übersetzung versuchte Christina Viragh, alle Umständlichkeiten zu vermeiden, einen Rhythmus zu finden, der so klingt, als würde man jemanden direkt ansprechen. Sie empfand große Nähe zum Autor: „Es ist nicht nur eine fachliche, sondern auch eine menschliche Auseinandersetzung. Ich fühle nach, was er fühlt.“ Nádas, der sehr gut Deutsch spricht, ließ ihr die Freiheit beim Übersetzen. Nur mit ganz wenigen Vorschlägen oder Fragen mischte er sich ein.
Kristóf, die zentrale Figur des Romans, ist auch ihre Lieblingsfigur. Der elternlos zwischen Coming-out und weiblicher Jugendliebe Taumelnde sei ihr in seiner Zerrissenheit zwischen gutbürgerlicher Erziehung und dem Wunsch, sich selbst zu finden, nah. Doch darüber hinaus „wollte ich mich nicht zur Gefangenen des Buches machen“, sagt Christina Viragh. Trotzdem kamen manchmal die Erinnerungen hoch, „eine starke Auseinandersetzung mit meinem ungarischen Ich“.
Erinnerungen an den Aufstand in Ungarn
Erinnerungen an die Niederschlagung des Aufstands 1956, als sie als kleines Kind mit ihren Eltern in der Straße lebte, in der Nádas heute seine Budapester Wohnung hat, und sie Tage im Keller verbrachten, weil der Budahügel beschossen wurde. An russische Panzer, an „die klassische Kriegssituation“. Und heute erzählen ihr Freunde und Verwandte, dass sie wieder Angst haben, offen zu sprechen, wie damals im kommunistischen System, „es ist ganz entsetzlich“. Mit Nádas suchte sie, wenn sie nicht an der Übersetzung tüftelten, die Distanz zum Text – und zu Ungarn. Sie spazierten durch Rom, fuhren ans Meer.
Hat die Arbeit an „Parallelgeschichten“ ihren eigenen Stil beeinflusst? Über die Antwort denkt sie lange nach. „Es gehört zu den starken Erlebnisse des Lebens, und die haben auf das Schreiben einen Einfluss, aber nicht unbedingt stilistisch, eher durch die Intensität der Auseinandersetzung.“ Sie sei energischer geworden. Aber sie hätte gedacht, es würde leichter gehen mit dem neuen Buch, an dem sie nun schreibt. So voller Ideen war sie in all den Jahren. „Ich dachte, ich setze mich hin und schreibe los, aber den Ansatz zu finden war dann doch nicht so leicht.“ Wohin der führen soll, will sie noch nicht sagen. Aber 1.724 Seiten werden es wohl nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen