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Stückentwicklung mit PassionsmusikEin Potpourri des Elends

Kommentar von Benno Schirrmeister

Im Theater Bremen hat Alize Zandwijk triste Szenen zu Bachs Matthäuspassion entwickelt. Die Produktion „Erbarmen“ gleitet leider in Kitsch ab.

Wie schön. Noch sitzen alle trübe im Wald, aber schon keimt die Hoffnung Foto: Jörg Landsberg (Theater Bremen)

T ja nun. Wer Bach mag, wird nicht richtig warm werden mit dem Abend. Wer Bach hasst, wird damit nichts anfangen können. Und wer sich für Johann Sebastian Bach interessiert, also wissen will, was sich mit dem alten Zeug herstellen lässt, wie es, aufgebrochen und durch radikale Interventionen übermalt, neu zu klingen vermag – kommt auch nicht auf seinen Kosten.

Denn musikalisch ist das am Samstag im Theater Bremen uraufgeführte Stück „Erbarmen“ von Schauspielregisseurin Alize Zandwijk, das sich an der Matthäus-Passion entlang hangelt, noch nicht einmal ein gescheitertes Experiment. Das Arrangement von Komponistin und Kontrabassistin Maartje Teussink probiert kaum mehr aus, als weiland James Last.

Im Wesentlichen hat sie den Orchestersatz für Streichquintett umgeschrieben und vieles noch mit verdoppelt. Die Profisänger singen ihre Soli gekonnt, wie ein mit Be­rufs­mu­si­ke­r*in­nen verstärkter Kirchenchor klingen die Choräle.

Schaurig wird’s, wenn Schau­spie­le­r*in­nen die Arien übernehmen: Mut zum sadistischen Zersingen zeigt dabei allein Annemaike Bakker, die als Schwangere in Weiß ihre Runden durch Thomas Ruperts finsteren Bühnenraum zieht. Hier gelingt die Schwebung zwischen Peinlichkeit und Grauen.

Bodenbelag aus schwarzen Bohnen

Insgesamt aber hat man ein Leidenspotpourri in einem Wald verkohlter Stümpfe angerührt, schwarze Bohnen bilden den Bodenbelag. Das gleitet nicht erst im letzten Bild in Kitsch ab, wenn Teussink von schwarzem Baumstumpf zu schwarzem Baumstumpf watet und per Seilzug daran grünes Blattwerk aufsprießen lässt, während alle anderen den tröstlichen Schluss­chor in c-Moll intonieren.

Zeit des Erbarmens

„Erbarmen“, Theater Bremen, Großes Haus.

Nächste Vorstellungen am 24. und 26. März, sowie am 2., 8., 28. April, 19.30 Uhr und am 10. und 15. April 18 Uhr.

Deutsche Elends-Stereotype – sieche Frau, Obdachloser, überforderte Krankenpflegerin, ein Jüngling in der Weltklimakrise etc. pp. – werden empört frontal von der Rampe ins Publikum unterrichtet. Manchmal werden Szenen gesponnen, so plakativ, dass sie dem seligen Hans Kresnik peinlich gewesen wären.

Da wackelt dann Susanne Schrader als alte Frau über die Bühne. Ein Pflegehelfer – Tenor Paul Sutton – zieht ihr im Schlurfen die Unterhose aus, dann wieder an, und zwar dreimal, damit keine Missverständnisse aufkommen.

Kitsch ist laut Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart das „schlechte Gewissen der Kunst“. Also das, was sie selbst nicht sein darf, aber gerne wäre: völlig unzweideutig, direkt und aufs Gefühlige berechnet. Die süße Schwere. Einfach zum Leben dazugehören, in ihm bedeuten, und, hach!, sich in Tränen niedersetzen, jetzt! Aber leider, selbst das Taschentuch bleibt diesen Abend trocken.

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Reporter und Redakteur
Jahrgang 1972. Seit 2002 bei taz.nord in Bremen als Fachkraft für Agrar, Oper und Abseitiges tätig. Alexander-Rhomberg-Preis 2002.
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