Zwei Computertastaturen auf enen getippt wird, unter denen sich ein dunkler Strudel auftut

Die Anzahl der Studierenden mit psychischen Problemen ist seit der Pandemie stark angestiegen Illustration: Eléonore Roedel

Studierende in der Dauerkrise:„Die Leichtigkeit ist dahin“

Erst Corona, dann Krieg und Inflation: Studierende leiden unter den aktuellen Krisen. Viele haben psychische Probleme oder Geldnot. Vier Hilferufe.

10.10.2022, 09:55  Uhr

„Eine Maske, die ihre Ängste verbirgt“

Jeremias, 21, studiert Informatik in München

Zum Wintersemester 2020/21 habe ich mein Bachelor-Studium im Fach Informatik in München begonnen. Ich blieb in meinem Elternhaus in Neuruppin, nach München umzuziehen, war nicht möglich: Man durfte zeitweise nicht nach München reisen, um ein WG-Zimmer zu besichtigen. Die Kurse waren ohnehin von Anfang an komplett online – wofür soll ich da auch nach München ziehen? Mit meinen Mit­ko­mi­li­to­n:in­nen hatte ich nahezu keinen Kontakt von Anfang an. Ich nahm damals an Kennenlernaktionen teil, aber immer nur über Zoom. Ich verlor schnell die Motivation an den Spielen.

Was dazu kommt: Wir sind über Eintausend Menschen im Jahrgang. Es sind so viele, dass du verdammt Glück haben musst, jemanden, den du mal irgendwo gesehen hast, online wiederzufinden. Die Vorlesungen waren noch schlimmer: Es war, als ob du einen Netflix-Film schaust. Abgespielte Streams ohne jegliche Interaktion zwischen den Studierenden. Ich fühlte mich isoliert.

Es dauerte bis zum Februar 2021, dass mir klar wurde: So kann es nicht weitergehen. Mit zwei Freunden fuhr ich nach Spanien in ein Ferienhaus. Dort verbrachten wir das gesamte Sommersemester – das war mein bisher schönstes Semester. Wir haben Ausflüge gemacht, zusammen gegessen und sind viel gewandert. Ich fühlte mich nicht mehr einsam. In der Zeit merkte ich, wie wichtig mir der soziale Austausch ist. Mein drängendstes Grundbedürfnis war erfüllt.

Zurück aus Spanien, beschloss ich im Wintersemester 2021/22 nach Berlin zu ziehen. Meine Freunde leben fast alle in Berlin, ich wollte sie um mich haben. Wir spielten gemeinsam Tischtennis an den Abenden, kochten gemeinsam in unseren WGs. Nun verlor ich meine Motivation für das Studium. In Tutorien war ich nicht mehr aufmerksam, ich investierte kaum noch Zeit in die Prüfungsvorbereitung – und fiel prompt durch zwei Prüfungen. Ich hatte das Gefühl, nirgendwo wirklich anzukommen.

Zum jetzigen Sommersemester zog ich dann doch nach München. Ich hatte die Hoffnung, dass ich wieder motivierter werde, wenn ich dort ins Studierendenleben eintauchen kann. Die Hoffnung war vergebens. Es fiel mir immer noch schwer, Kontakte zu knüpfen. Das lag auch daran, dass viele Mit­kom­mi­li­to­n:in­nen nicht erst im vierten Semester nach München gezogen sind und sich bereits Gruppen gebildet hatten. Ich ging trotzdem auf Leute zu und begann Unterhaltungen, aber bei einem so großen Jahrgang kommt es einem Wunder gleich, dieselbe Person in der nächsten Veranstaltung im Hörsaal ausfindig zu machen.

Ich wurde immer einsamer. Meine Unileistungen ließen drastisch nach, das stresste mich. Ich geriet in einen Teufelskreis. Ein Ausweg aus dem stressigen und bislang unangenehmen Studium wäre es, es so schnell wie möglich abzuschließen, dachte ich. Weil es mir aber nicht gut ging im Alltag, widmete ich mich anderen Aktivitäten – zum Beispiel programmierte ich an meinen privaten Projekten weiter – und fiel wieder durch Prüfungen. Das Ziel war in weite Ferne gerückt.

Ich habe viel mit Selbstzweifeln zu kämpfen. Das Schlimme ist: Alle tragen eine Art Maske an der Universität. Keine FFP2-Maske, sondern eine Maske, die ihre Ängste verbirgt. Als ich zur Studienberatung ging, sagte man mir dort, es gehe vielen schlecht und sogar schlechter als mir. Wenn es aber niemand zeigt, fühlt man sich allein mit den Problemen und Ängsten.

Eine Coronainfektion im Juni knockte mich für zwei Wochen aus. An den Begleitumständen der Erkrankung bin ich psychisch kaputtgegangen. Ich hatte depressive Schübe, Stimmungsschwankungen, und das akkumulierte sich alles in sehr viel Stress. Meine Hände rissen auf, die Ärztin diagnostizierte mir eine psychosomatische Neurodermitis. Das zog sich über drei Monate hin, und ich musste Baumwollhandschuhe tragen, weil ansonsten die Haut bei den kleinsten Berührungen aufriss. Erst in den Semesterferien verheilten die Hände.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die Semesterferien fühlten sich gut an. Ich reiste herum und besuchte Freunde in Berlin und Leipzig. Diese Woche aber ging es mir wieder schlecht. Ich werde merklich gereizter und sensibler im Alltag, wenn ich an die kommende Zeit denke. Mitte Oktober muss ich eine Prüfung nachschreiben. Und die Woche darauf beginnt schon das Wintersemester. Trotzdem habe ich mir vorgenommen, nicht hoffnungslos zu sein, sondern neugierig darauf, was das kommende Semester mit sich bringt, und ob es mir gelingt richtige Freunde beim Sport oder in der Uni zu finden – und endlich im Informatikstudium in München anzukommen.

Protokoll: Johannes Runge

„Diese ganzen Krisen beeinflussen meine Leistungen“

Asli, 27, studiert in Potsdam den Master of Education für Deutsch und Geschichte

Wenn ich die vergangenen zweieinhalb Jahre in einem Wort beschreiben soll, würde ich sagen: anstrengend. Als die Coronakrise im Frühjahr 2020 begann, habe ich noch an der Universität Bayreuth studiert und war in der Abschlussphase meines Lehramtsstudiums. Ich musste nur noch meine Zulassungsarbeit schreiben. Dass ich keine Kurse mehr zu belegen hatte, war für mich in dieser Situation eine Entlastung.

In den ersten drei Monaten habe ich viel Sport gemacht, habe auf meine Ernährung geachtet und weniger gearbeitet. Insgesamt bin ich kürzer getreten. Das war fast etwas meditativ für mich. Gleichzeitig hatte ich Angst: Wie entwickelt sich die medizinische Versorgung? Geht das Ganze jetzt drei Monate oder am Ende doch ein oder zwei Jahre? So vieles war so ungewiss.

Ich musste mir aber keine Sorgen um die Miete oder um die Lebensunterhaltungskosten machen, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch bei meinen Eltern gewohnt habe. Auch wenn meine Eltern in prekären Verhältnissen arbeiten, hat mich das gut aufgefangen. Meine Mutter ist in der Produktion eines Automobilzulieferers tätig, sie hat Kurzarbeitergeld bekommen. Mein Vater musste sich eine neue Beschäftigung suchen. Er ist eigentlich in der Veranstaltungsbranche tätig, doch die meisten Aufträge wurden storniert oder waren nicht mehr realisierbar. Er hat dann als Quereinsteiger als Sicherheitsmitarbeiter gearbeitet – unterbezahlt.

Eine Studerende sitzt allein vor dem Computer, bedrängt von Corona-viren und einer winkenden Glückskatze

Viele Studierende vereinsamen durch das Online-Studium und fühlen sich mit ihren Problemen alleingelassen Illustration: Eléonore Roedel

In den ersten sechs Monaten der Pandemie gab es für mich keine finanziellen Schwierigkeiten. Ich konnte rund zwanzig Stunden im Monat als studentische Hilfskraft weiterarbeiten. Als aber ab Ende des Sommers klarer wurde, dass die Pandemie nicht so schnell vorbei sein würde, habe ich mich nach einem zweiten Job umgesehen. BAföG habe ich nicht mehr bekommen, meine Härtefallanträge wurden abgelehnt. Immerhin ergaben sich während der Coronakrise neue Job­möglichkeiten für Student:innen, so fand ich schnell einen zweiten Job, in dem ich ziemlich viel arbeiten konnte und einen Stundenlohn von 12 Euro hatte.

Mit meiner Abschlussarbeit ging es jedoch nur schleppend voran, weil ich eben mehr arbeiten musste. Deshalb habe ich die gesamten drei Coronasemester dafür gebraucht. Diese Zeit war insgesamt sehr fordernd, weil mein jetziger Mann und ich heiraten wollten und unsere erste gemeinsame Wohnung bezogen haben. Im Sommer 2021 bestand keine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage, ich kam auch mit meiner Abschlussarbeit kaum voran. Die unsichere Situation hat mich immer mehr belastet. Beruhigend war es für mich, dass die gesamten drei Semester wegen der Ausnahmeregelung nicht auf die Regelstudienzeit angerechnet wurden.

Die aktuelle Situation ist aber nochmal eine ganz andere Hausnummer für mich. Jetzt studiere ich in Potsdam den Master of Education mit den Fächern Deutsch und Geschichte und lebe in Berlin. Auch wenn ich mir gemeinsam mit meinem Mann eine Wohnung teile, ist es schwierig über die Runden zu kommen. Mit der Wohnung hatten wir Glück, wir haben etwas Bezahlbares in einem Randbezirk gefunden. Aber selbst mit einer Miete von rund 700 Euro ist es durch die steigenden Kosten in allen anderen Bereichen neben dem Studium ein Kraftakt.

Nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine ist alles noch schwieriger geworden. Am meisten belastet mich derzeit die Ungewissheit über bevorstehende Rechnungen. Was wird wohl an Gas- und Stromrechnungen auf uns zukommen? Wie teuer wird der wöchentliche Einkauf? Seitdem die Preise so gestiegen sind, ist es schon eine Investition, wenn wir in ein Restaurant gehen. Unter dreißig Euro kommen wir zu zweit nicht raus. Ich überlege dann schon, ob wir uns das überhaupt leisten können.

Psychische Belastung

Von wegen Studentenzeit, Zeit des unbeschwerten Lebens: Die heutige Generation der Studierenden schlittert seit gut zweieinhalb Jahren von Krise zu Krise zu Krise. Mehrere Umfragen und Studien belegen, dass die psychischen Probleme unter den Studierenden zugenommen haben. Anfang des Jahres erklärten in einer Befragung des freien Zusammenschlusses von Stu­den­t*in­nen­schaf­ten 60 Prozent von 7.622 Befragten, dass sie aufgrund ihrer psychischen Konstitution Probleme hätten, das Semester zu bewältigen. An den psychologisch-therapeutischen Beratungsstellen der Universitäten wurden im Jahr 2021 insgesamt 9.100 Stunden in Anspruch genommen – fast 1.000 mehr als vor der Pandemie.

Steigende Preise

Hinzu kommen nun auch noch die steigenden Energiekosten und die Inflation. Auch die Mietpreise für Studentenwohnungen haben angezogen, das Preisniveau liegt 5,9 Prozent höher als im Vorjahr, wie der Studentenwohnreport des Finanzdienstleisters MLP gerade ermittelt hat. Für viele Studierende heißt das: mehr arbeiten, um sich das Leben leisten zu können. Das Deutsche Studentenwerk (DSW) fordert, den BAföG-Satz an das neue Bürgergeld anzupassen. DSW-Generalsekretär Matthias Anbuhl sagte: „Die Koalition muss den Grundbedarf für den Lebensunterhalt beim BAföG auf 502 Euro anheben.“ Derzeit bekommen die Studierenden für den Grundbedarf 452 Euro. Zwar wurde das BAföG zum vergangenen Wintersemester um 5,75 Prozent erhöht, doch das reiche nicht aus, so Anbuhl.

Ich habe Zukunftsängste. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass ich in einer vergleichsweise privilegierten Position bin. Ich kann weiter studieren. Danach habe ich einen Abschluss, der zu einem Beruf befähigt. Aber diese ganzen Krisen beeinflussen mich auch im Alltag, und das wirkt sich auch auf meine akademischen Leistungen aus. An der Universität gibt es keine Mechanismen, die diese Folgen auffangen. Ich kann schlecht zu einer Prü­fe­r:in gehen und sagen, dass ich die Abgabe nicht schaffe, weil ich mehr arbeiten musste und das Geld vorne und hinten nicht reicht.

Einige meiner Pro­fes­so­r:in­nen haben mir schon häufiger angeraten, dass ich die akademische Laufbahn einschlagen sollte und sogar eine Professur anstreben soll. Für mich ist das in der aktuellen Lage keine Option. Dafür sind die Beschäftigungsverhältnisse an Hochschulen zu prekär.Für meine Zukunft wünsche ich mir eine sinnstiftende Beschäftigung, in der ich aufgehen kann, die aber auch gesichert ist.

Protokoll: Sara Rahnenführer

„Die ganze Bildschirmzeit ist mir zu viel geworden“

Tamina, 26, studiert Peace and Conflict Studies an der Universität Magdeburg

Ich verstehe es einfach nicht. Nach all den Einschränkungen der vergangenen Semester findet an meiner Universität wieder die Hälfte der Kurse online statt. Das frustriert mich. Warum? Darauf habe ich bisher keine befriedigende Antwort erhalten. Ich bin von Greifswald nach Magdeburg gezogen, weil es hier einen internationalen Masterstudiengang gibt, den ich unbedingt machen wollte. Er heißt Peace and Conflict Studies und findet größtenteils auf Englisch statt. Meine Kom­mi­li­to­n:in­nen kommen aus Kolumbien, Bulgarien, Pakistan, den USA. Wie generell in den Sozialwissenschaften geht es auch in diesem Studium viel um Austausch und Diskussion, Vernetzen und Projektarbeit. Wie wenig das online möglich ist, müssen doch auch die Dozierenden festgestellt haben. Dennoch bieten sie ihre Seminare jetzt wieder teils oder gänzlich virtuell an. Zwei Veranstaltungen, die ich gerne besucht hätte, kommen deshalb jetzt für mich nicht in Frage.

Andere finden Onlinekurse bequem und praktisch – mir nehmen sie die Freude am Studium. Ich studiere echt gerne. Dazu gehört für mich aber auch, dass es ein Unileben gibt, an dem ich teilhaben kann. In meinem Bachelorstudiengang in Greifswald habe ich es immer sehr genossen, nach oder zwischen den Veranstaltungen mit Kom­mi­li­to­n:in­nen ins Gespräch zu kommen. Über die Lektüre, die wir gerade für Literaturwissenschaften zu lesen hatten. Über politische Themen. Für mich hat Uni auch eine aktivistische Seite. Hier kann ich mich engagieren und organisieren. Für all das muss man sich begegnen können. Diesen Raum stellt die Uni zur Verfügung. Seit Beginn der Pandemie ist das aber nicht mehr so. Mit dem Studieren, wie ich es vorher kennengelernt habe, hat das nicht mehr viel zu tun.

Wie viele andere haben mich die Onlinesemester emotional und körperlich stark belastet. Den ganzen Tag mit krummen Rücken vor dem Laptop hocken, immer nur auf einen Bildschirm gucken, das ist nicht gesund. Vor allem, wenn der Ausgleich – Yogastunden, Sportkurse, Tanzen! – fehlt. Wenn Ar­beit­neh­me­r:in­nen ins Homeoffice gehen, werden sie gefragt, ob sie einen rückenfreundlichen Bürostuhl, einen großen Bildschirm benötigen. Bei uns Studierenden hat niemand nachgefragt. Das passt ins Bild. Im öffentlichen Diskurs ging es dauernd um Schüler:innen. Über Studierende wurde so gut wie gar nicht gesprochen. Auch dann nicht, als die psychische Belastung für die Studierenden längst sichtbar wurde.

Das zweite Onlinesemester hab ich irgendwann abgebrochen, weil ich zu starke Kopfschmerzen bekommen habe. Vielleicht wäre das nicht passiert, wenn ich nicht parallel so viel ehrenamtlich im Bereich Flucht und Migration organisiert hätte, natürlich auch alles online. Die ganze Bildschirmzeit ist mir zu viel geworden. Wahrscheinlich hätte mir das alles nicht so zugesetzt, wenn ich in Magdeburg schon einen Freun­d:in­nen­kreis und somit mehr Ausgleich gehabt hätte. Ich bin aber exakt zum ersten Coronasemester neu in die Stadt gekommen. Bis auf ein, zwei Kontakte kannte ich niemanden. Das hat es nicht gerade einfacher gemacht. An einem Punkt waren die Erschöpfungssymptome bei mir so stark, dass ich ein paar Stunden zu einer Heilpraktikerin gegangen bin. Das hat mir geholfen, besser auf mich zu achten.

Jetzt versuche ich, mir nicht zu viel aufzuladen und vor allem: nicht zu viel online zu sein. Nicht ständig E-Mails checken, nicht ständig erreichbar sein. Ich frage mich ernsthaft, welche Folgen die Digitalisierung für die Hochschulen haben wird. Dass die Unis aktuell überlegen, wegen der hohen Gaspreise im Winter Gebäude zu schließen, finde ich besorgniserregend. Wir schließen die Unis aus wirtschaftlichen Gründen? Echt jetzt? Meine Befürchtung ist, dass sich das jetzt ganz schleichend in Richtung Onlinestudium bewegt. Das wäre traurig und schlecht für alle Studierenden. In Onlinekursen geht so viel verloren. Im Übrigen auch für die Gesellschaft, die von progressiven Debatten und Austausch nur profitieren kann.

Wegen der Pandemie brauche ich insgesamt zwei Semester länger für mein Studium, aber das ist okay. Im Gegensatz zu vielen anderen Studierenden habe ich keine großen finanziellen Sorgen. Für mein 22-Quadratmeter-Zimmer in einer WG zahle ich 290 Euro im Monat, die Chemie mit den Mit­be­woh­ne­r:in­nen stimmt auch. Da habe ich echt Glück. Überhaupt fühle ich mich finanziell recht privilegiert. Ich bekomme ab diesem Semester 700 Euro BAföG und jobbe nebenher in einem Buchladen. Damit kann ich die steigenden Preise momentan noch abfedern. In diesem Punkt hat sich der Umzug nach Magdeburg bezahlt gemacht. Und ich bin dankbar dafür, dass viele meiner Kom­mi­li­to­n:in­nen nicht den Kopf haben hängen lassen.

Statt an der Uni treffen wir uns jetzt regelmäßig in einem Kiezladen. Dennoch bleibt ein fader Geschmack. Die Leichtigkeit von früher ist dahin.

Protokoll: Ralf Pauli

„Meine finanzielle Situation ist ein Desaster“

Sophie*, 34, studiert Humanmedizin an der Berliner Charité

Die Inflation und die steigenden Lebenshaltungskosten kommen echt ungelegen. Ich habe 48.000 Euro Schulden. Erst hatte ich einen Kredit von der KfW. Dann einen von der Ärztebank – und auch der ist bald aufgebraucht. Ungefähr 4.000 Euro sind noch übrig. Und das ganze nächste Jahr muss ich irgendwie noch überbrücken. Wie genau, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich bin alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Und zum Abschluss meines Medizinstudiums steht noch das PJ an, das Praktische Jahr. Das heißt: zwölf Monate Vollzeit im Krankenhaus arbeiten – für etwa 350 Euro Praktikumsgehalt im Monat in einer privaten Klinik. Immerhin. Die Charité bezahlt für das Praktische Jahr gar nichts, obwohl die Studierenden das seit Jahren immer wieder einfordern.

Ich bin 34 Jahre. Als ich das Studium an der Berliner Charité angefangen habe, war ich 27. Davor habe ich eine medizinische Ausbildung gemacht. Auch, weil mein Abischnitt nicht für einen sofortigen Medizinstudienplatz gereicht hat. Mein Vater wollte, dass ich Physik studiere. Ich habe es ihm zuliebe ausprobiert, konnte damit aber nichts anfangen. Irgendwann habe ich hingeschmissen, ich wollte lieber Ärztin werden. Seither ist klar, dass er mich nicht weiter finanziell unterstützt. Das Ganze hatte aber ein böses Nachspiel für mich. Weil ich das Studienfach gewechselt habe, wurde mein BAföG-Antrag abgelehnt. Bis heute ist das gängige Praxis. Zumindest wer nach zwei oder wie ich drei Semestern merkt, dass der Studiengang nichts für einen ist und sich neu einschreibt, bekommt kein BAföG. Diese Regel ist so weltfremd. Und einer der Gründe, warum ich heute so hoch verschuldet bin.

Leere Taschen, die nach aussen gestüplt werden

Viele Studierende haben ernste finanzielle Sorgen Illustration: Eléonore Roedel

Ein anderer hat mit der Pandemie zu tun. Ich hatte einen Nebenjob in einer hausärztlichen Praxis. Einen Tag die Woche. In der Praxis habe ich alles gemacht, was angefallen ist: Terminvergabe am Tresen, Pa­ti­en­t:in­nen aufrufen, schon mal Blut abnehmen, Assistenz in der Sprechstunde. Ungefähr 350 Euro im Monat habe ich so dazuverdient. Im ersten Lockdown habe ich den Job leider aufgeben müssen. Ich konnte die Arbeitszeiten unmöglich einhalten. Mein jüngeres Kind durfte zwar in die Notbetreuung, aber allerspätestens um 16 Uhr musste ich es abholen. Und mein älteres Kind war ja schon in der Schule, es musste zu Hause lernen. Da wurde erwartet, dass ein Erwachsener zu Hause ist und sein Kind beim Homeschooling unterstützt. Ich bin allein mit den Kindern, mir blieb gar nichts anderes übrig. Klar, dass sich der Kredit ohne den Job dann noch schneller verbraucht hat.

Um es auf den Punkt zu bringen: Meine finanzielle Situation ist ein Desaster. Insgesamt komme ich auf ungefähr 1.500 Euro Fixkosten im Monat, das ist absolutes Minimum: 650 Euro für die Miete, rund 400 Euro für Essen, 50 Euro Rückmeldegebühren für das Studium, wenn man die auf den Monat runter rechnet, und vielleicht so 200 Euro für die Freizeitaktivitäten meiner Kinder. Sie sind sieben und zehn. Nicht, dass wir uns viel gönnen – aber wenn Freunde meiner Kinder Eis essen oder ins Kino gehen, will ich nicht als Einzige sagen: „Da könnt ihr nicht mit, das können wir uns nicht leisten.“ Gleichzeitig macht sich das schon bemerkbar, dass überall die Preise anziehen. Im Eiscafé um die Ecke, im Supermarkt. Da muss ich an das Geld auf der Bank denken, das immer weniger wird. Gerade kam noch eine neue Waschmaschine dazu – vier Monate lang habe ich den Kauf rausgezögert. Das einzig Gute ist, dass meine Wohnung nicht mit Gas beheizt wird.

Weil ich mehr arbeite, habe ich natürlich auch weniger Zeit zum Lernen. Dadurch war ich irgendwann mit den Klausuren so weit hinterher, dass mich die Charité in ein unfreiwilliges Freisemester versetzt hat, damit ich die Prüfungen nachhole. Deshalb dauert das Studium jetzt ein Semester länger. Im Oktober steht mein zweites Staatsexamen an. So gut vorbereitet wie andere, die sich nur ums Lernen kümmern müssen, bin ich leider nicht. Auch mein älteres Kind ist als Folge der Pandemie schulisch im Rückstand, weil für das Homeschooling nicht genug Zeit war. In solchen Momenten spürt man, dass Studiengänge wie Medizin wahnsinnig exklusiv sind und dass das auch so gewollt ist. Ohne finanzielle Unterstützung aus dem Elternhaus oder BAföG ist es doppelt schwer – und hinterlässt oft einen Schuldenberg.

Trotz allem habe ich es fast geschafft und freue mich darauf, bald endlich als Ärztin zu arbeiten.

Protokoll: Ralf Pauli

*Ihr Vorname und das Alter ihrer Kinder wurden auf Wunsch geändert.

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