Studienautorin über Ost-Kohleausstieg: „Es gibt Angst vor der Entkopplung“
Die Fokussierung auf Märkte ist beim Strukturwandel nach dem Kohleausstieg im Osten der falsche Weg. Studienautorin Anna Schüler kennt Alternativen.
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taz: Frau Schüler, in einer von Ihnen mitverfassten Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung beklagen Sie, dass beim Strukturwandel im mitteldeutschen Braunkohlerevier nur ein verengtes Verständnis von regionaler Entwicklung umgesetzt wird. Was bedeutet das genau?
Anna Schüler: Gegenwärtig folgen die Planungen und Leitbildprozesse der dominanten Erzählung von Strukturentwicklung: fokussiert auf Märkte, auf Innovationen und die ‚Green Economy‘. Das ist einleuchtend, wenn man an Arbeitsplätze und daran denkt, dass ein zentraler Zweig der Wertschöpfung wegfällt. Aber es ist zu kurz gedacht. Denn erstens steht dabei nicht die Frage im Fokus, wie die Menschen vor allem im Kernrevier, also im ländlichen Raum, leben wollen und was dafür gebraucht wird. Und zweitens ist es als Antwort auf die Klimakrise nicht ausreichend, ein paar Industrien grüner zu machen. Das lässt außer Acht, wie tiefgreifend alle gesellschaftlichen und ökonomischen Bereiche transformiert werden müssen.
Thema Arbeit: Der Braunkohleabbau ist einer der bedeutsamsten Industriezweige der Region und wichtiger Arbeitgeber für viele Menschen. Was passiert durch den Strukturwandel mit den Existenzen?
Für einen Teil der direkt in der Kohle Beschäftigten sind Anpassungsgelder vorgesehen, das gilt aber nicht für alle. Zudem dauert die Phase der Anpassung in Sachsen-Anhalt wohl noch bis in die 2030er Jahre. Die Hoffnung, dass auch die Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft (Mibrag) einen Umbauprozess anstößt und sich durch andere Formen der Energieerzeugung als Energiedienstleister und Arbeitgeber in der Region etabliert, haben wir nicht. Der Mibrag-Eigentümer hat in den vergangenen Jahren vor allem darauf spekuliert, dass die Energiewende verzögert wird. Umso mehr glauben wir, dass über andere Formen des Wirtschaftens nachgedacht und diese entsprechend förderbar werden müssen: gemeinwohlorientierte Unternehmen, lokale Wertschöpfung, Genossenschaften.
Gefördert werden derzeit zum Beispiel Straßenbauprojekte in der Region. Sie kritisieren, dass zu wenig Geld in Demokratieförderung, soziale und kulturelle Infrastrukturen fließt. Wiederholen sich in Sachsen-Anhalt auch die Erfahrungen mit der Strukturpolitik nach der Wende und die Angst vor einem erneuten Strukturbruch?
Das ist die am häufigsten geäußerte Befürchtung in den Gesprächen, die wir geführt haben. Das gibt es bei Kohlebeschäftigten, im Kulturverein oder in der Lokalpolitik: die nachvollziehbare Angst vor der Entkopplung. Die Menschen wollen mitreden, es gibt den Wunsch, sich zu beteiligen und aktiv mitzugestalten. Diese Hoffnungen gilt es nicht zu enttäuschen, weil Politik sonst einen enormen Vertrauensverlust riskiert. Wenn aber die Beteiligungsprozesse nicht langfristig angelegt sind, oder die Zivilgesellschaft in den Gremien, die über Fördermittelkriterien und deren Vergabe entscheiden, nicht vertreten ist, wie sollen Entkopplungserfahrungen dann aufgefangen werden?
Mit der Studie versuchen Sie, auf diese Fragen auch Ausblicke zu formulieren. Was bräuchte es für eine echte sozial-ökologische Strukturpolitik?
Eine Frage ist der Zeitfaktor. Die Klimakrise wird sich nicht an Förderzyklen halten. Daher sehen wir in den Strukturwandelprozessen gerade zentrale Hebel für Transformationen. Dafür braucht es eine Abkehr von der bisherigen
Politik der großen Unternehmen und einen Fokus auf lokale Wertschöpfung. Ökologische und Klimaneutralitätskriterien und Demokratisierung müssen Grundlage für den Umbau sein, auch in der Förderung. Wir plädieren auch dafür, vor allem den ländlichen Raum als Priorität zu behandeln. Wachstumspole wie Leipzig oder Halle haben andere Zugänge und Ressourcen als Gemeinden wie Hohenmölsen oder Zeitz.
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