Studie über Mittelschichtmilieus: Das Märchen vom Abstieg
Die Ampel-Parteien haben die großen sozialen Fragen bislang umschifft. Doch ohne Zumutungen für die Mittelschicht wird es nicht gehen.
E s ist auffällig, dass im Sondierungspapier der künftigen Ampelkoalition große Fragen der Sozialpolitik umschifft werden: Rente und Pflege. Hier will die künftige Regierung alles eher beim Alten belassen, Pflegenotstand und Renten-Finanzprobleme hin oder her. Bei beiden Themen müsste man unangenehme Verteilungsfragen ansprechen, die vor allem die Mittelschichtmilieus betreffen.
Die Mittelschicht aber möchte beitragsmäßig und steuerlich möglichst entlastet werden. Rente, Pflege, Bildung, Gesundheit: der Staat und die Sozialkassen sollen bitteschön möglichst umsonst liefern. Das kann so natürlich nicht funktionieren.
Das Problem ist zunächst: Mittelschicht ist nicht gleich Mittelschicht. Der neue Verteilungsbericht des gewerkschaftsnahen WSI-Instituts kommt zu dem Schluss, dass die Mittelschichtseinkommen in den Jahren vor Corona im Schnitt gewachsen sind, weil Arbeitskräfte gesucht werden.
Die untere Mittelschicht aber profitiert weniger und litt stark unter Corona. Selbstständige haben teilweise hohe Einkommensverluste erlitten. Hohe Wohnkosten in den Metropolen können zur Verarmung führen, falls man nicht geerbt hat.
Auseinandersetzung mit Verteilungsfragen wird blockiert
In den Mittelschichtmilieus zeigen sich feine Bruchlinien wie in einer Porzellanschüssel mit Sprung. Will man die Solidarsysteme in einer alternden Gesellschaft erhalten, werden aber Zumutungen kommen müssen. Beitragsbemessungsgrenzen und Sozialbeiträge für Gesundheit und Pflege werden steigen, Renten gedämpft werden müssen. Die Erbschaftsteuer sollte erhöht werden. Brauchen Hochverdiener kostenfreie Kitas? Das ärmste Zehntel der Bevölkerung hat übrigens keine Einkommenszuwächse erlebt.
Das Märchen von der absteigenden Mittelschicht blockiert die Auseinandersetzung mit Verteilungsfragen. Auch die kommende rot-grün-gelbe Koalition vertagt. Das geht nicht ewig gut, sondern erhöht nur den Druck. Wer da mal ran muss, ist jetzt schon nicht zu beneiden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag