Studie über Missbrauch in der Kirche: Das Wegschauen der Katholiken
Missbrauch in der katholischen Kirche hat enorme Ausmaße, zeigt eine Studie. Das System ist anfällig für Übergriffe und deren Vertuschung.
Seit vier Jahren arbeiteten WissenschaftlerInnen an einer Studie, am Dienstag stellte die Bischofskonferenz die Ergebnisse vor. Die sogenannte MHG-Studie – 356 Seiten dick und benannt nach den Orten der beteiligten Forschungsstätten in Mannheim, Heidelberg und Gießen – offenbart einen Skandal unermesslichen Ausmaßes: 3.677 Kinder und Jugendliche, meist Jungen, wurden in der Zeit von 1946 bis 2014 sexuell missbraucht. Die Opfer waren überwiegend jünger als 13 Jahre, manche sogar erst 10 Jahre alt.
Die Beschuldigten: 1.670 Priester, Diakone, Ordensangehörige. Nach bisherigen Erkenntnissen waren 4,4 Prozent aller Kleriker der deutschen Bistümer Täter, nicht wenige von ihnen pädophil oder homosexuell. Nur etwa ein Drittel von ihnen wurde angezeigt, in der Regel von den Betroffenen, fast nie von Kirchenvertretern. Innerkirchliche Strafen gab es kaum, gegen zwei Drittel der Beschuldigten wurde nicht einmal ein Verfahren eingeleitet.
Im Gegenteil: Manche Akten wurden so manipuliert, dass Missbrauchsvorwürfe verschleiert wurden, nicht wenige mutmaßliche Täter wurden in der Kirchenhierarchie befördert oder versetzt, an ihren neuen Arbeitsorten hatten sie nach wie vor mit Kindern und Jugendlichen zu tun.
Je mehr Macht, desto mehr Missbrauch
Auffallend ist, dass die Zahl der sexuellen Übergriffe steigen, je höher die Beschuldigten in der kirchlichen Ordnung stehen: Von den 1.670 Beschuldigten waren 1.429 Diözesanpriester, 159 Ordenspriester und 24 Diakone. Je größer die Macht, desto stärker wurde sie ausgenutzt.
Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Bischofskonferenz, findet angesichts dieser Dramatik klare Worte: „Sexueller Missbrauch ist ein Verbrechen. Wer schuldig ist, muss bestraft werden.“ Die Kirche hätte zu lange weggeschaut, „um der Institution willen und des Schutzes von uns Bischöfen und Priestern willen“. Die Kirche hätte „Machtstrukturen zugelassen und den Klerikalismus gefördert“. Und er sagt: „Ich schäme mich.“
Kardinal Reinhard Marx
Die Vorwürfe massenhafter sexueller Übergriffe an Kindern und Jugendlichen lässt die katholische Kirche seit 2010 nicht los. Damals hatte Pater Klaus Mertes, seinerzeit Rektor des Canisius-Collegs in Berlin, zahlreiche Missbrauchsfälle in der Eliteschule öffentlich gemacht. Schon vor acht Jahren schien klar: Es handelt sich nicht um zahlreiche Einzelfälle, sondern um systematische Gewalt an Schutzbefohlenen, um die Zerstörung von Leben – unter dem Schutzschild katholischer Nächstenliebe.
Man darf davon ausgehen, dass die durch die MHG-Studie bekannt gewordenen Zahlen nur einen Bruchteil der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche widerspiegeln, ExpertInnen sprechen von einer weitaus höheren Dunkelziffer. „Das ist die Spitze eines Eisberges“, sagte Harald Dreßing, forensischer Psychiater und einer der AutorInnen der Studie.
Akten vorsortiert und zurückgehalten
Die ForscherInnen haben Akten von über 38.156 Klerikern eingesehen, das sind bei Weitem nicht alle vorhandenen Akten. Die Kirche hatte die Akten vorsortiert, also auch welche zurückgehalten. Von den 27 Bistümern in Deutschland haben nur 17 einen Einblick bis ins Jahr 1946 zugelassen. Bei allen anderen Bistümern reicht die Forschungszeitspanne lediglich vom Jahr 2000 bis ins Jahr 2014. Zudem wurden Akten zerstört, darin dokumentierte Missbrauchsfälle sind demzufolge nicht mehr nachweisbar.
Unabhängig davon wurden zahlreiche Missbrauchsfälle erst bekannt, weil sich Opfer bei den ForscherInnen meldeten, nachdem diese von ihrem Projekt öffentlich berichtet hatten. Meist Fälle, die in den Akten nicht auftauchen. Diese Gespräche, auch anonyme Onlinebefragungen, flossen mit in die Erhebung ein.
Dreßing betonte zwar, die Kirche habe keinerlei direkten Einfluss auf die Forschung der ExpertInnengremiums ausgeübt. Dennoch bleibt zumindest der Eindruck der Manipulation, wenn Einblicke verweigert werden. Das ist nicht zum ersten Mal passiert. Der Kriminologe Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) sollte von 2011 an die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche im Auftrag der Bischofskonferenz untersuchen. Doch zwei Jahre später kündigte die Bischofskonferenz den Vertrag mit dem KFN wegen Differenzen mit Pfeiffers Institut.
Pfeiffer indes erhob den Vorwurf von „Zensur- und Kontrollwünschen der Kirche“. Die Kirche ihrerseits argumentierte mit Datenschutz und einem „Generalverdacht“ gegen alle Priester, würden die Akten breit geöffnet. Auch damals schon war von vernichteten und zurückgehaltenen Akten die Rede. Dass Pfeiffer die aktuelle DHG-Studie kritisiert, verwundert demzufolge nicht. Es habe nicht die „große Befragung aller erreichbaren Betroffenen gegeben, die eigentlich stattfinden müsste“, sagte der Kriminologe. Er nannte es „organisierte Verantwortungslosigkeit“, dass man nicht wisse „wer die Verantwortlichen sind“.
„Ausmaß seit 2010 klar“
In anderen Ländern, in denen die katholische Kirche von Missbrauchsfällen erschüttert wird, untersuchen staatliche Stellen die Vorfälle, der direkte Einfluss klerikaler Stellen ist weitgehend zurückgedrängt. In den USA erschien schließlich im August 2018 ein 800 Seiten dicker Bericht mit erschreckenden Zahlen: 19.000 Opfer von 1950 bis 2016, vermutlich 6.800 Kleriker als Täter, das sind etwa sieben Prozent der katholischen Priester. Die Zahl der Betroffenen in den USA wird insgesamt auf etwa 100.000 geschätzt. In Australien spricht eine Aufarbeitungskommission von rund 4.500 Opfern und plant einen umfassenden Umbau der katholischen Kirche.
Die deutsche katholische Reformbewegung „Wir sind Kirche“, die seit 2002 und damit schon lange vor dem Bekanntwerden des katholischen Missbrauchssystem ein Nottelefon für Opfer betreibt, sieht in der aktuellen Studie nicht den „großen Wurf“. Christian Weisner, einer der Gründer der Reformbewegung, sagte der taz, ihn verwundere es zutiefst, warum die Bischöfe nach Bekanntwerden der Zahlen, „so überrascht und erschüttert“ tun: „Das Ausmaß war seit 2010 klar. Die Frage ist eher: Was haben die Bischöfe seitdem eigentlich getan?“
Unabhängig von den Schuldbekenntnissen in Fulda und der Zusage für einen Kurswechsel, haben einzelne Kirchen mittlerweile die Leitlinien für ihr Personal geändert. Es geht um grundsätzliche Fragen des Umgangs: Wie darf sich Ordenspersonal Kindern und Jugendlichen nähern? In welcher Situation mit ihnen zusammen sein? Wann mit ihnen allein?
Auf die praktische Ausübung katholischer Rituale wie das Beichten hat das bereits Auswirkungen. So hört man, dass sich manche Priester mittlerweile weigern, Kindern und Jugendlichen die Beichte abzunehmen. Bei der Beichte sind Gläubige und Pfarrer allein. Die Folge: ein Widerspruch im Umgang der Kirche mit seinen Gläubigen. Einerseits will die Kirche nah dran sein an den Menschen, auch an Kindern und Jugendlichen, andererseits dürfen und wollen sie sich ihnen nicht mehr direkt nähern.
Weisner und seine Reformbewegung bezweifeln, dass „Reparaturarbeiten“ ausreichen, um die Glaubwürdigkeit der Kirche wieder herzustellen. „Vielmehr geht es um eine Grundsanierung“, sagte Weisner der taz: weg mit dem Pflichtzölibat für Priester, her mit einer modernen Sexualmoral einschließlich der Anerkennung homosexueller Liebe, her mit dem Priesteramt für Frauen. All diese katholischen Vorgaben und Verbote hätten dem massenhaften Missbrauch Vorschub geleistet.
Die ExpertInnen der Studie betonten mehrfach, dass diese keine Aufarbeitung ersetze, da die von der Kirche selbst in Angriff genommen werden müsse. Zurückhaltender äußerte sich Marx zur Idee, die weitere Aufarbeitung der Missbrauchsfälle staatlichen Behörden zu übergeben. Er halte weitere Untersuchungen für nötig – allerdings sollten diese Untersuchungen von den einzelnen Bistümern in Auftrag gegeben werden.
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