Studentin über 60 Jahre Mauerbau: „Die Mauer ist nur eine mentale“

In der Ausstellung Berlin Global im Humboldt Forum geht es um aktuelle Grenzen in der Stadt. Wie undurchlässig ist die Berliner Mauer heute noch?

In der Ausstellung Berlin Global Foto: Kulturprojekte u. Stadtmuseum Berlin, Oana Popa-Costea

taz: Frau Ebert, für die Ausstellung Berlin Global im Humboldt Forum haben Sie den Raum über Grenzen mitgestaltet. Worum geht es dort?

Marie-Luise Ebert: Wir haben dafür sichtbare und unsichtbare Grenzen in Berlin aufgespürt: Eine Gruppe hat sich mit der Ausgrenzung älterer Menschen im Alltag in dieser Stadt beschäftigt, eine andere mit Umweltgerechtigkeit, also konkret mit Lärmbelästigung. Ein Thema war Alltagsrassismus, ein anderes Wohnen in Berlin – also die Frage, wo man sich in Berlin überhaupt noch eine Wohnung leisten kann. Außerdem gab es eine Gruppe, die sich mit der Krankenversicherung von Menschen ohne Papiere in Berlin beschäftigt hat.

Wie kam es dazu, dass Sie als Studentin dort mitgestaltet haben?

Das Ganze geht auf einen Kurs an der Humboldt-Universität zurück, am Institut für Geografie und am Institut für Sozialwissenschaften aus dem Sommersemester 2018. Da ging es darum, die Inhalte für einen der Räume in der Ausstellung bereitzustellen. Wir waren etwa 20 Studierende und haben uns wie bei einem angeleiteten Brainstorming auf neun Grenzen geeinigt, die wir dann in Gruppen bearbeitet haben.

Mit welcher Grenze haben Sie selbst sich beschäftigt?

Wir haben uns in unserer Gruppe gefragt, inwiefern die Mauer die Nachwendegeneration geprägt hat. Wir wollten wissen, ob es eine mentale Ost-West-Grenze gibt, die von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Wie kamen Sie persönlich zu diesem Thema?

Die Mauer ist zwar nicht mehr überall im Stadtbild sichtbar, aber doch noch ziemlich greifbar. Ich bin in vierter Generation Berlinerin, meine gesamte Familie kommt aus Westberlin. Für meine Großmutter ist die Grenze noch derart präsent, dass mich das schon geprägt hat. Ich habe das immer noch im Ohr, wie sie immer auf dem Weg in den Urlaub durch Mecklenburg-Vorpommern bis nach Schleswig-Holstein gesagt hat, wie heilfroh sie früher war, wenn sie wieder im Westen ankam. Ich fand es interessant herauszufinden, ob es auch anderen Leuten in meiner Generation so geht, also nicht nur jungen Menschen aus dem ehemaligen Westberlin, sondern auch jenen aus Ostberlin.

Wie sind Sie vorgegangen?

Die Auflage war, dass das Material, das wir sammeln, hochwertig ist. Deshalb haben wir uns entschieden, im Tonstudio der Uni in Adlershof eine Gruppendiskussion mit je drei Teilnehmerinnen und Teilnehmern aufzunehmen, die in Westberlin und in Ostberlin aufgewachsen sind.

Termin Am 13. August 1961 begann die DDR mit dem Bau einer Mauer rund um Westberlin. Daraus wurde ein etwa 155 Kilometer langes Bollwerk, das die Stadt mehr als 28 Jahre trennen sollte.

Veranstaltungen Anlässlich dieses Jahrestags gibt es in der Stadt am heutigen Freitag und darüber hinaus zahlreiche Veranstaltungen, zum Beispiel an der Gedenkstätte Berliner Mauer, an der East Side Gallery und in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. Im Mauerpark findet das Filmfestival Mauerfilme statt, gezeigt werden rund 75 Filme, Dokumentationen und Archivschnipsel aus Ost und West, darunter auch 20 Animations- und Kurzfilme aus jüngster Zeit.

Humboldt Forum Die Ausstellung Berlin Global mitsamt Themenraum Grenzen im Humboldt Forum hat seit dem 20. Juli geöffnet und ist in den ersten 100 Tagen kostenlos, allerdings muss man online ein Zeitfensterticket buchen. Öffnungszeiten Mo., Mi., Do., So. 10 bis 20, Fr. und Sa. 10 bis 22 Uhr, Di. geschlossen. Außerdem gibt es bei Berlin Global anlässlich 60 Jahren Mauerfall eine digitale Veranstaltungsreihe, die nächste zur polnischen Solidarność-Bewegung ist am 10. November geplant. (sm)

Wie haben Sie diese jungen Leute gefunden?

Wir haben es zuerst über die Verteiler der Uni versucht, aber die Resonanz war nicht allzu groß. Letztendlich haben wir sie übers Schneeballprinzip gefunden.

Zu welchen Ergebnissen sind die Diskutierenden denn gekommen?

Am Anfang haben alle stark verneint, dass die Mauer in ihrem Alltag noch eine Rolle spielt. Im Gegensatz zu den Eltern, die nach Aussagen der Teilnehmenden einen Ossi oder Wessi auf Entfernung erkennen können, hätte keiner vor Beginn der Gruppendiskussion sagen können, wer im ehemaligen Osten und wer im ehemaligen Westen aufgewachsen ist.

Und dann?

Dann haben sie doch gemerkt, dass sie noch zwischen Ost und West unterscheiden. Es fängt schon bei der Sprache an. Den Ostberliner Begriff Kaufhalle für Supermarkt kannten die jungen Leute aus dem Westen immer noch nicht. Und wenn man zum Beispiel in Charlottenburg wohnt, dann trifft man sich als junger Mensch nach wie vor eher nicht in Prenzlauer Berg, weil es einfach zu weit weg ist. Eine Teilnehmerin, die in Friedrichshain aufgewachsen ist, hat recht lebendig erzählt, dass sie sich immer noch wie ein Ossi fühlt, irgendwie deplatziert, wenn sie durch Dahlem läuft. Alles sei teurer. Sie hat gesagt, dass sie dann doch lieber durch ihren Baumschulenweg läuft und ihre Rentner grüßt.

Kam auch Alltagsrassismus zur Sprache?

Eine Teilnehmerin hat geschildert, dass Berlin für sie definitiv multikulturell ist, aber je weiter man in den tiefen Osten fährt, desto mehr fällt man auch auf als Person, die nicht typisch deutsch aussieht. Sie erzählte, dass sie sich noch gut daran erinnern konnte, wie ihr Vater einmal die Übernahme einer Gartenlaube abgelehnt hatte. Er stammt aus Kolumbien, und wegen der Stimmung in der Gartenkolonie in Grünau, bei der in gefühlt jedem Garten eine Deutschlandfahne hing, wollte er dort nicht hin.

Wie wurde das von den anderen Teilnehmenden aufgenommen?

Eine Teilnehmerin hat bestätigt, dass sich einige Freunde von ihr nicht in manche Bezirke im ehemaligen Osten trauen. Die Teilnehmenden, die im ehemaligen Osten aufgewachsen sind, haben dazu innerhalb der Gruppendiskussion nicht direkt geantwortet.

Was würden Sie denn jetzt drei Jahre nach Abschluss Ihrer Arbeit und auch im Vergleich mit den anderen Arbeiten zu aktuellen Grenzen in der Stadt sagen: Spielt die Berliner Mauer noch immer eine große Rolle – oder gibt es inzwischen Mauern in der Stadt, die viel dicker sind?

wurde 1996 geboren und studiert seit 2017 Geografie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Ich würde schon sagen, dass es inzwischen Grenzen gibt, die undurchlässiger und damit auch entscheidender sind. Die Berliner Mauer ist oft nur noch eine mentale, sie wird immer mehr verschwinden, und das ist auch gut so. Andererseits ist es natürlich spannend, wie die Mauer von Generation zu Generation weiter gegeben wird. Und außerdem: Wenn man sich die Einkommensverhältnisse zwischen Ost und West anschaut oder auch, wo die Unternehmenssitze der großen Firmen sind, dann spielt die Mauer natürlich nach wie vor eine große Rolle. Ich glaube, da muss bei der Politik noch viel passieren, um diesen Komplex als Ganzes zu sehen – und auch, um ihn als Ganzes anzugehen.

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