Stressminderung auf Intensivstationen: Licht und Duft im Gerätepark
Ein Lübecker Apotheker propagiert sanfte Methoden, um den Stress für Intensivpatient*innen zu verringern und so die Heilung voranzubringen.
![Die Maschinen eines leeren Intensivplatzes auf der Intensivstation für Corona-Patienten am Sana Klinikum Offenbach. Die Maschinen eines leeren Intensivplatzes auf der Intensivstation für Corona-Patienten am Sana Klinikum Offenbach.](https://taz.de/picture/5323864/14/269870518-1.jpeg)
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Massagen mit Bergamottöl, Jasminduft im Krankenzimmer, wärmende oder kühlende Wickel – als Jörg Riedl vor zehn Jahren mit solchen Vorschlägen auf die Intensivstation des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) kam, sah er in skeptische Mienen mit hochgezogenen Augenbrauen: „Die Kollegen dachten wohl, wir wedeln mit Häckeldeckchen und machen Schamanismus“, sagt der 51-Jährige, der im Universitären Krebszentrum Nord in Lübeck als Stationsapotheker arbeitet. Inzwischen hat er alle Beteiligten davon überzeugt, dass solche sanften Methoden gut in den Gerätepark der Intensivstation passen.
Seine Erfahrungen und allgemeine Studien zum Thema hat er in einem Fachartikel zusammengefasst: „Palliative komplementäre Maßnahmen auf der Intensivstation – alles Voodoo oder sinnvolle Ergänzung der Therapie?“ Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und der Deutsche Ärzteverlag haben den Aufsatz mit einem Preis ausgezeichnet, weil der Text „interdisziplinäre Ansätze und Schnittstellen der intensivmedizinischen Berufsgruppen“ zeige, wie es bei der Preisverleihung hieß.
Riedl, der auch zur Ethikkommission des Uniklinikums gehört, ist als Stationsapotheker eng in die Abläufe auf der Intensivstation eingebunden. Sein Schwerpunkt liegt bei der Versorgung von Krebskranken, bei denen nicht mehr die Heilung, sondern ein schmerz- und angstfreies Sterben im Zentrum steht. „Es geht um Symptomlinderung“, sagt Riedl.
Jörg Riedl, Apotheker in Lübeck
Dazu braucht es manchmal einen Aufenthalt auf der Intensivstation, und der ist – gerade für Schwerstkranke und Hochbetagte – anstrengend, schreibt Riedl in seinem Aufsatz: Neben „akustischen, optischen und olfaktorischen Störfaktoren“ liegt das besonders an den „Interaktionen“, etwa „das Erheben von Vitalparametern, die Medikamentenapplikation, das Absaugen und die Anlage neuer Venenzugänge“.
Mehr als acht Mal pro Stunde tritt eine Pflegekraft oder Ärzt*in ans Bett, nachts genauso wie tagsüber. Eine Studie, die 50 Intensivpatient*innen auf vier Intensivstationen 147 Nächte lang beobachtete, registrierte „in der gesamten Zeit nur neun ununterbrochene Episoden von zwei bis drei Stunden Schlaf“, schreibt Riedl. „Neben Lärm könnten auch Schmerzen, depressive Verstimmungen und Medikamente den Schlaf-Wach-Rhythmus verändern, die Schlafqualität mindern und Schlafstörungen verursachen.“
Die Folgen sind fatal, zeigen weitere Studien: Wer schlecht schläft, ist erschöpft, gestresst – und das wirkt sich körperlich aus. So heilen Wunden schlechter und es dauert länger, bis die Kranken sich erholen. Ältere geraten in Verwirrungszustände.
In der Intensivmedizin habe das früher kaum eine Rolle gespielt, sagt Riedl: „Das ist Hightech, die Spitze dessen, was mit technischer Unterstützung möglich ist. Die primäre Aufgabe ist, den Menschen am Leben zu erhalten.“ Spätfolgen, auch wenn sie jahrelang andauern, seien da zunächst unwichtig, „Beifang“ sozusagen. Doch das Bewusstsein wandle sich, weiß Riedl, der auch Kurse für Palliativversorgung abhält: „Früher waren dort die Intensivmediziner so selten wie karierte Maiglöckchen, heute nehmen sie regelmäßig teil.“
Ein Grund könnte sein, dass dank des medizinischen Fortschritts immer mehr Menschen auf der Intensivstation liegen, bei denen es nicht mehr um Heilung geht: Hochbetagte und Schwerstkranke. „Für sie geht es darum, das Leben zu erleichtern, nicht zu retten“, sagt Riedl. „Sicher kann ich jeden mit Medikamenten ruhigstellen, aber das wünscht der Patient meist nicht.“
Neuseeland ist weiter
So kommen die sanften Hilfen ins Spiel: Blumenduft und Öle, beruhigende Farben und Musik, „intelligente“ Geräte, die nicht laut Alarm geben, und Abläufe, die den Kranken mehr Ruhepausen gönnen und Angehörige einbinden: „Wenn die zum Beispiel die Hände der Kranken massieren, haben sie das Gefühl, helfen zu können, das mindert auch ihren Stress“, sagt Riedl.
Dass er als Apotheker auf die Kraft von Düften und Ölen setzt, sei nicht ungewöhnlich: „Sicher haben Heilpflanzen im Lauf der Zeit an Bedeutung für die Behandlung verloren, aber das Wissen darum ist eine Kernsäule unserer Ausbildung und des Berufs.“ Allerdings fehle oft die „Transformation in der Praxis“.
Er selbst hat seine erste Erfahrungen mit komplementären Methoden im Intensivbereich in Neuseeland gesammelt: „Ich stand da als junger Apotheker und habe dumm geguckt, was die da alles machen.“
Keine Kraft für eine Umstellung
Aktuell seien die meisten Intensivstationen durch die Versorgung der Coronapatient*innen zu sehr belastet für Umstellungen, sagt Riedl. Dennoch lautet sein Tipp für Krankenhäuser, sich auf das Thema einzulassen.
Oft seien die Pflegekräfte, die die meiste Zeit am Krankenbett verbrächten, besonders offen. „Es ist wichtig, die Pflege hinter sich zu haben“, weiß Riedl. Aber er weiß auch, dass jede Änderung im System auf Widerstände stößt. „Es braucht immer eine Person, die das Thema vorantreibt, am besten jemanden mit kommunikativen Fähigkeiten, Fachwissen und Erfahrung.“
Sinnvoll sei es, nicht sofort alles zu ändern, sondern mit kleinen Zielen zu beginnen. Damit ließe sich auch die Geschäftsführung überzeugen: „Mit kleinen Mitteln lässt sich viel erreichen. Ein Aromaöl kostet schließlich nur ein paar Euro.“
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