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Streit um das bessere LebenEssen mit Anspruch

In Kreuzberg soll ein Aldi raus aus der Markthalle Neun. Eine Verdrängungsgeschichte, bei​ der es um mehr als nur einen Discounter geht.

Zwei Einkaufkonzepte, in der Markthalle Neun noch an einem Standort vereint Foto: Stefanie Loos

Berlin taz | Die Tür des Kreuzberger Stadtteilzentrums in der Lausitzer Straße 8 steht offen an diesem Sonntagmittag. Drinnen drängeln sich mehrere Menschen an der Tür zum Hinterzimmer, eine Frau steht auf einem Stuhl, um besser sehen zu können. Rund 60 Menschen haben sich in dem Raum versammelt, dessen Wände mit in Schwarz-Weiß ausgedruckten Aushängen bedeckt sind: „Kiez-Markthalle statt Luxus Food-Halle“ steht in Großbuchstaben darauf, oder „Aldi bleibt“.

Vorne spricht ein Mann, der sich als „Andreas aus der Muskauer“ vorstellt. Er trägt einen schwarzen Kapuzenpullover, sein Mitstreiter neben ihm Hemd unter dem Pullover mit V-Ausschnitt. „Ich finde zuallererst mal: Aldi soll bleiben“, sagt Andreas Wildfang, wie der Mann mit vollem Namen heißt. Die meisten Anwesenden nicken. Aldi sei für viele Anwohner ein Treffpunkt im Kiez. Ein Kiez, dessen Charme „gar nicht so ein erzwungenes Miteinander, sondern eher ein respektvolles Nebeneinander ist“, findet Wildfang, der in den achtziger Jahren das Eiszeit-Kino gleich um die Ecke mitgegründet hat, eine Kreuzberger Institution, die im vergangenen Jahr nach Streitigkeiten mit dem Vermieter schließen musste.

Ob nun Mit- oder Nebeneinander: Mit beidem gibt es momentan ein Problem hier im Kiez rund um den Lausitzer Platz in Kreuzberg 36.

Seit die Betreiber der Markthalle Neun in der Eisenbahnstraße angekündigt haben, dass der in der Markthalle ansässige Aldi-Supermarkt zum 31. Juli schließen und Anfang 2020 durch eine Filiale der Drogeriekette dm ersetzt wird, gibt es in der Nachbarschaft lautstarken Protest. Jeden Sonntag soll es nun eine Anwohnerversammlung zu dem Thema geben, an diesem Samstag ist eine Kundgebung vor der Markthalle geplant.

Für wen ist dieser Ort?

Wer der Versammlung hier im Stadtteilladen zuhört, merkt schnell: Die Aldi-Schließung ist für viele nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Eigentlich geht es um mehr: Um die Frage, zu was für einem Ort die Ende des 19. Jahrhunderts für die Lebensmittelversorgung der armen Bevölkerung gebaute Eisenbahnmarkthalle geworden ist, seit sie 2011 von der Stadt verkauft wurde und seitdem als Markthalle Neun betrieben wird. Und vor allem geht es darum, für wen dieser Ort ist und für wen nicht.

Der Konflikt spielt in einem Kiez, der sich in den letzten Jahren stark verändert hat, aber noch lange nicht „durchgentrifiziert“ ist. Ende 2016, zum Zeitpunkt der letzten Erhebung durch das Monitoring soziale Stadt, bezogen fast 30 Prozent der Anwohner im Planungsraum Lausitzer Platz staatliche Transferleistungen. Deutlich weniger als zehn Jahre zuvor, der Arbeitslosenanteil etwa hatte sich in diesem Zeitraum fast halbiert. Doch auch zu diesem Zeitpunkt lag etwa der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die in Hartz-IV-Familien leben, mit mehr als 40 Prozent noch gut zehn Prozentpunkte über dem Berliner Durchschnitt.

Gar nicht so verwunderlich also, dass der schon seit Langem schwelende Konflikt um die Markthalle Neun nun mit der angekündigten Aldi-Schließung an Fahrt aufnimmt. Nachdem der Drogeriemarkt Drospa und der Textildiscounter Kik aus der Halle auszogen, der Trinker-Treffpunkt in der Hallenmitte einem Kaffeestand weichen musste und auch der Schreibwarenladen in der Eisenbahnstraße von der erkrankten Besitzerin aufgegeben wurde, wirkt die Aldi-Filiale in der Halle wie das letzte Relikt aus einer anderen Zeit.

Um dieses Relikt wird nun gestritten, und das mit Vehemenz: Seit an Straßenlaternen Zettel aufgetaucht sind, auf denen in Anlehnung an ein Lied von Ton Steine Scherben gefordert wird, doch endlich „Bernd und Nikolaus und Florian“, die drei Markthallenbetreiber also, aus Kreuzberg rauszuschmeißen, wird dem Protest in einigen Medien attestiert, über das Ziel hinauszuschießen.

Eine sympathisch klingende Idee

Auf der Versammlung im Stadtteilzentrum wird an diesem Sonntag allerdings immer wieder angemahnt, die Situation differenziert zu betrachten. „Es ist nicht alles Schwarz-Weiß, gut und böse“, sagt eine Frau.

Wie gut oder böse Aldi ist, da ist man sich hier auch schlicht gar nicht einig: „Ich bin nicht dafür, dass wir uns für einen turbokapitalistischen Großkonzern einsetzen, für dessen Produkte auf der ganzen Welt Menschen ausgebeutet werden“, sagt ein hagerer junger Mann. Eine ältere Dame in der ersten Reihe schüttelt den Kopf, kurz vorher hatte sie erzählt, wie wichtig ihr der Aldi als Einkaufsmöglichkeit sei. Kurz sieht es so aus, als würde sie gehen wollen, ihre Handtasche hat sie schon gegriffen, überlegt es sich dann aber offenbar doch anders.

Was die Versammelten eint, ist das Gefühl, dass da etwas schief gelaufen ist mit der Entwicklung der Markthalle, dass sie, die Anwohner, von denen sich viele damals gegen einen Verkauf der Halle an einen Großinvestor und für die sympathisch klingende Idee der heutigen Betreiber eingesetzt hatten, irgendwo auf der Strecke geblieben sind. „Wir bieten das Lokalkolorit für ihre Events, ansonsten sind wir unerwünscht“, sagt ein älterer Mann, und viele im Raum nicken.

Wir bieten das Lokalkolorit für ihre Events, an­sonsten sind wir unerwünscht

Ein Anwohner der Martkthalle Neun

Donnerstagmittag in der Markthalle, wenige Tage nach der Protestversammlung im Stadtteilzentrum. Es ist Mittagessenszeit, die in der Halle aufgestellten Bierbankgarnituren sind gut gefüllt, die meisten Portionen kosten zwischen sieben und zehn Euro. Risotto, Maultaschen, Tapas, thailändischer Papayasalat und amerikanisches Pulled-Pork-Sandwich: Das Angebot ist in etwa so international wie die Kundschaft, wobei international in Berlin natürlich nicht automatisch touristisch heißt. Eine Befragung der Markthallenkunden aus dem Jahr 2017, die eine Mitarbeiterin der Markthalle für ihre Bachelorarbeit durchführte, beziffert den Anteil derjenigen Besucher, die in Berlin wohnen, auf 78 Prozent.

Die Kosten der Lebensmittel

Im ehemaligen Welt- und heutigen Markthallenrestaurant an der Pücklerstraße sitzt Florian Niedermeier, grüner Wollpullover und abgewetzte Turnschuhe, vor einem Teller Eintopf. Niedermeier, einer der drei Markthallen-Betreiber, nimmt sich viel Zeit für den Termin. Er zeigt das Konzept, mit dem sich das Team damals um die Markthalle beworben hat, im ersten Konzeptverfahren der Stadt überhaupt. „Wir verstehen, dass uns der Aldi jetzt um die Ohren gehauen wird“, sagt Niedermeier, dem seine Augsburger Herkunft an einem leichten Dialekt anzuhören ist. „Wir behaupten auch nicht, dass wir bisher alles richtig gemacht haben.“ Er sagt aber auch: „Wer in Deutschland Geld für Essen ausgibt, gerät sofort unter Verdacht.“

Wer Geld für Essen ausgibt, gerät sofort unter Verdacht

Florian Niedermeier, Markthalle Neun

Man kann sich, auch aus linker Perspektive, trefflich darüber streiten, wie viel Lebensmittel kosten dürfen oder müssen. Klar ist: 1,49 Euro für ein ganzes Suppenhuhn vom Discounter ist ein Preis, der ohne Ausbeutung von Menschen, Tieren und Umwelt nicht zu machen ist. Klar ist aber auch: Den Familieneinkauf auf dem Wochenmarkt in der Markthalle Neun zu erledigen, wäre für viele Anwohner finanziell allerhöchstens möglich, wenn es tagein, tagaus Möhreneintopf geben soll.

Das weiß auch Niedermeier. „Für mich ist die Antwort auf dieses Problem aber nicht, den Erzeugern und Händlern weniger zu zahlen, sondern die Leute müssen mehr Geld haben, um sich den wahren Preis von Lebensmitteln leisten zu können“, sagt er. Erhöhung des Mindestlohns, der Hartz-IV-Sätze, der Sozialausgaben: Das alles seien Forderungen, die er „hundertprozentig“ unterschreiben würde.

Das hat Niedermeier, der gleich um die Ecke der Markthalle wohnt, sicherlich mit vielen seiner Nachbarn gemein. Nur: Es sind auch Forderungen, deren Erfüllung alles andere als vor der Tür steht. Momentan stehen Hartz-IV-Empfängern für die Ernährung ihrer Kinder bis zum sechsten Lebensjahr 2,77 am Tag zu. Das macht den Einkauf auch beim Discounter schwierig. In der Markthalle bekommt man dafür einen Cappuccino.

Markthallenmitbetreiber Florian Niedermeier Foto: Stefanie Loos

Auf der Website der Markthalle steht seit einigen Wochen ein Text, in dem auf einzelne Argumente der Kritiker eingegangen wird. „Wer sich auskennt und mit der Saison kocht, kann sogar günstiger einkaufen als im Supermarkt“, steht dort als Antwort auf die Kritik an der Preisgestaltung. Ein Tonfall, der von vielen auf der Anwohnerversammlung als belehrend und überheblich empfunden wird.

Klar ist nämlich auch: Es geht bei dem Streit um die Markthalle nicht nur darum, was Lebensmittel kosten dürfen und wer sich was leisten kann. Es geht auch darum, wer in der Markthalle willkommen ist und wer sich ausgeschlossen fühlt, in der eigenen Nachbarschaft.

Es bleibt nur Ah und Oh

„Wenn Aldi raus ist, dann bin ich in der Markthalle nicht mehr Kundin, dann bin ich Besucherin“, sagt Eva Schmidt auf der Versammlung im Stadtteilzentrum. Seit 21 Jahren wohnt sie nach eigenen Angaben im Kiez. „Dann kann ich da stehen und Ah und Oh machen, aber ich bin nicht mehr gleichberechtigt mit den Leuten, die da einkaufen.“ Später erzählt die Frau mit dem dunklen Pferdeschwanz davon, wie es sich anfühle, wenn morgens wieder einmal der Markthallenlieferverkehr die Straße zuparke, oder wenn sie von Securities durch einen Korridor zum Aldi gelenkt werde, weil der Rest der Markthalle für ein eintrittspflichtiges Event gesperrt sei.

„Die breiten sich immer mehr aus, die ganze Nachbarschaft wird in Mitleidenschaft gezogen“, sagt Schmidt. Auch die Initiative Bizim Kiez, die eine ausführliche und durchaus differenzierte Stellungnahme veröffentlicht hat, adressiert dieses Problem: Es müsse Schluss gemacht werden damit, „im Betrieb der Markthalle Profite zu privatisieren, aber die Kosten (Lärm, Müll, Verkehr, Gentrifizierungsdruck, Verdrängung) der Nachbarschaft aufzubürden, ohne dass sie Mitspracherechte hätte“, wird dort gefordert.

Immer wieder wird auf der Versammlung außerdem betont, dass doch gerade Aldi mit seinem Biosortiment die Möglichkeit biete, sich auch mit wenig Geld gesund zu ernähren. „Wir sind auch bio!“, empört sich ein Mann, und viele nicken. Es geht hier auch darum, dass man sich nicht abstempeln lassen will als ignoranter Discounterkunde, der nichts will, als sich mit billiger Tiefkühlpizza vollzustopfen.

Was die Verträglichkeit der Erzeugung von Lebensmitteln für Mensch und Umwelt angeht, liegen Welten zwischen dem, was bei Aldi als bio angeboten wird, und den Produkten, die an den Ständen in der Markthalle verkauft werden. Ob der ökologische Fußabdruck der Markthallenkunden aber wirklich kleiner ist als der derjenigen, die bei Aldi einkaufen, ist damit noch lange nicht gesagt: Fernflüge, Sushi-Mahlzeiten und der ein oder andere SUV müssten hier schließlich ebenfalls eingepreist werden.

Eine gemeinsame Sprache finden

Aber auch kleinere Fragen als die nach der ökologischen Gesamtbilanz spielen in dem Streit eine Rolle. Zum Beispiel die, auf welcher Sprache man kommuniziert.

In der Markthalle Neun findet viel auf Englisch statt, es gibt den Street Food Thursday, das Try Foods Tasting und den Breakfast Market. Auch in der Halle selbst und besonders im von der Markthalle betriebenen Café sprechen nicht nur viele Gäste, sondern auch einige der Angestellten nur englisch.

Florian Niedermeier sagt, er verstehe, dass sich Leute davon ausgeschlossen fühlten. Gleichzeitig schätze er an Berlin aber auch die Internationalität, die er in Augsburg vermisst habe. Und in einer internationalen Stadt sei Englisch oft auch eine inklusive Lösung. Trotzdem: „Es stimmt schon, dass wir da noch mal nachdenken sollten, was wir besser machen können, damit sich hier wirklich auch die Anwohner willkommen fühlen“, sagt er. Sämtliche Produkte im Café nur auf Englisch anzupreisen, sei vielleicht nicht die beste Lösung.

Es klingt ehrlich, gleichzeitig ist aber auch klar: Die Markthallenbetreiber haben schon seit einer ganzen Weile die Gelegenheit, über diese Fragen nachzudenken und bessere Lösungen zu finden. Denn fast von Beginn an gab es immer nicht nur Zuspruch aus, sondern auch Konflikte mit der Anwohnerschaft.

Der Billigmarkt als Störfaktor

„Markthalle für alle“, das sei damals, als der Verkauf der Markthalle an einen Großinvestor drohte, die Forderung der Anwohner gewesen, sagt Niedermeier. „Wir haben schon damals gesagt: Eine Markthalle wie in den fünfziger Jahren wäre nur möglich, wenn die Menschen auch wieder ihren kompletten Lebensmitteleinkauf dort erledigen würden – das ist heutzutage komplett unrealistisch.“

Eine Vermutung, der man mit Blick auf Umfragen zum Einkaufsverhalten der Deutschen zustimmen muss: 2016 gaben bei einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach 84 Prozent der Befragten an, ihren Lebensmitteleinkauf beim Discounter zu erledigen. Nur 17 Prozent teilten mit, dafür keine Supermärkte, sondern kleine Lebensmittelgeschäfte zu besuchen.

Alles also nur ein großes Missverständnis, von einer Markthalle für alle war nie die Rede?

Auch wenn dieser Slogan im Bewerbungskonzept von damals nicht vorkommt, finden sich dort andere Formulierungen, die zu Recht Erwartungen in der Anwohnerschaft schüren. „Die enge Einbindung der Nachbarschaft ist ein zentrales Anliegen des Konzepts“, heißt es dort etwa, oder als ganz konkrete Vision: „Am Abend treffen sich die Anwohner beim täglichen Einkauf an der Metzgertheke und verweilen auf ein Glas Bier oder Wein.“ Sollten sie den Zuschlag bekommen, so das damalige Versprechen der Markthallenbetreiber, werde die Markthalle ein Ort für Menschen „jeden Alters, aller sozialer Schichten und Nationalitäten“.

Genau diese soziale Durchmischung ist es, deren vollständiger Verlust durch die Schließung der Aldi-Filiale nun befürchtet wird. Als „Störfaktor“ habe der Billigmarkt der „Homogenisierung des Publikums“ entgegengewirkt, schreibt die Initiative Bizim Kiez, selbst aus einer Rettungsaktion für einen kleinen, unabhängigen Lebensmittelhändler entstanden.

Dass die Aldi-Filiale, deren Mietvertrag alle sechs Monate verlängert werden müsse, eines Tages ausziehen werde, war von Anfang an im Konzept der Markthallenbetreiber angelegt, eigentlich sogar bereits für einen früheren Zeitpunkt geplant. Dass der Discounter durch einen Drogeriemarkt ersetzt wird, davon findet sich allerdings nichts im Konzept – auch dm mit mehr als 3.500 Märkten in 13 Ländern ist schließlich alles andere als der Tante-Emma-Laden von nebenan.

Auf der Website der Markthalle wird der dm-Einzug auch damit begründet, die Unternehmensphilosophie der von dem Anthroposophen und Multimillionär Götz W. Werner gegründeten Kette passe besser zur Markthalle als die von Aldi. Im Gespräch mit Niedermeier hört sich die Begründung etwas anders an. Viele in der Nachbarschaft wünschten sich einen Drogeriemarkt, sagt er, vor allem aber: „Die Hoffnung ist, dass das Angebot von dm, anders als bei Aldi, nicht in Konkurrenz zu unseren Markthändlern steht, sondern zusätzlich ein Publikum anzieht, dass dann auch in der Halle einkauft.“

Eine Markthalle für alle

Denn zur Wahrheit gehört auch, dass die Halle bisher noch nicht so läuft, wie es ihre Macher im ursprünglichen Konzept erhofften: Ein Fisch- und ein Gemüsehändler hätten vor Kurzem ihre Stände aufgegeben, weil sich der Betrieb nicht lohne, sagt Niedermeier. Die dm-Filiale garantiert Mieteinnahmen, deren Verzicht sich die Markthalle noch nicht leisten kann – auch deswegen die Abweichung vom ursprünglichen Vorhaben, den Aldi durch Markthändler zu ersetzen.

Ohne die vergleichsweise hohen Standmieten und zusätzliche Einnahmen durch eintrittspflichtige Veranstaltungen sei der Betrieb der ehemals defizitären Halle wirtschaftlich nicht machbar, argumentieren die Betreiber.

Ob private Eigentümer überhaupt das richtige Modell für die Markthalle seien, wird auf der Anwohnerversammlung diskutiert. „Was ist denn, wenn die die Markthalle irgendwann verkaufen, und dann wird alles noch viel schlimmer?“, fragt eine Frau. Dann fliegen Begriffe durch den Raum: Community Land Trust, Genossenschaftsgründung, Rekommunalisierung.

Prinzipiell wolle man sich keiner Diskussion verschließen, sagt Niedermeier zu diesen Vorschlägen. Von einer Rekommunalisierung halte er allerdings wenig angesichts der Stiefmütterlichkeit, mit der das Thema Ernährung von der Berliner Politik behandelt werde: „Ich habe nicht den Eindruck, dass es auf städtischer Seite Konzepte für eine Stadtentwicklungspolitik gibt, die eine nachhaltige, ökologisch und sozial verträgliche Ernährungspolitik berücksichtigt“, sagt er. Anders als etwa in Barcelona, wo die Stadt ihre Markthallen als zentralen Bestandteil der Infrastruktur erkannt habe und entsprechend behandle, stecke das Thema in Berlin noch in den Kinderschuhen.

Die Hallen, historisch

Früher vierzehn:

Ende des 19. Jahrhunderts hatte Berlin ein Problem: Die Bevölkerung effizient und unter hygienischen Bedingungen mit Lebensmitteln zu versorgen wurde angesichts rasant steigender Einwohnerzahlen immer schwieriger. Abhilfe schaffen sollten 14 überdachte Markthallen, die die Stadt errichten ließ. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschwanden etliche der Hallen wieder: Viele von ihnen hatten aufgrund der Konkurrenz durch die neu entstandenen Kaufhäuser Probleme, hinzu kamen Wirtschaftskrisen und Kriege.

Heute vier:

Derzeit gibt es noch vier dieser Hallen in Berlin. Neben der Markthalle Neun sind das die Marheinekehalle im Kreuzberger Bergmannkiez, die Ackerhalle in Mitte und die Arminiushalle in Moabit. (mgu)

Es gibt erste Versuche der rot-rot-grünen Regierung, das zu ändern. So ist im Koalitionsvertrag festgehalten, „den Anteil an Bioessen in Kindertagesstätten, Schulen, Kantinen, Mensen und beim Catering in öffentlichen Einrichtungen bis 2021 deutlich [zu] erhöhen“. Dabei helfen soll das sogenannte House of Food, ein Konzept aus der dänischen Hauptstadt Kopenhagen. In diesem Modellprojekt solle Großküchen und Caterern gezeigt werden, „wie der Anteil an Bioprodukten, saisonalen und Frischzutaten durch Weiterbildung und Beratung weitgehend kostenneutral erhöht und wie Lebensmittelverschwendung und -verluste vermindert werden können“, heißt es im Koalitionsvertrag. Eine Million Euro sind im Doppelhaushalt 2018/2019 für dieses Vorhaben eingestellt, für den nächsten Haushalt will die Senatsverwaltung für Verbraucherschutz mehrere Millionen für das Projekt beantragen.

Noch bis Ende März läuft die Bewerbungsphase für den Betrieb des geplanten Schulungszentrums. Zu den Bewerbern gehört auch die Markthalle Neun: Über der neuen dm-Filiale, so der Plan, soll eine zweite Ebene eingezogen werden, die das House of Food beherbergen werde.

Andere Töne aus der Politik

Bislang gab es für die Markthalle Neun viel Lob aus der Stadtpolitik, was den Zuschlag für das House of Food wahrscheinlich erscheinen lässt. Die Übernahme des Großmarkts Beusselstraße in Moabit, um die sich die expansionswillige Markthalle ebenfalls beworben hatte, scheiterte allerdings vor einem Jahr an Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne), die die Markthalle zwar ebenfalls als „sehr erfolgreich“ lobte, vor eine mögliche Privatisierung der bislang landeseigenen Beusselhallen aber zunächst einen „Zukunftsdialog Großmarkt“ schalten will.

Angesichts der Anwohnerproteste kommen nun auch aus der Bezirkspolitik andere Töne: Zur letzten Bezirksverordnetenversammlung (BVV) am Mittwoch wollte die SPD zunächst sogar einen Antrag einbringen, mit dem das Bezirksamt dazu verpflichtet worden wäre, sich für den Erhalt der Aldi-Filiale einzusetzen. Kurz vor der Sitzung am Mittwoch wurde der Text geändert und um die Formulierung „oder ein vergleichbarer Einzelhändler“ ergänzt – ein Störsignal in Richtung Markthalle ist der Antrag, der von der BVV angenommen wurde, dennoch. Ebenfalls verabschiedet wurde ein Antrag der Grünen, die einen runden Tisch zum Thema einrichten wollen. „Die Markthallenbetreiber müssen die Offenheit mitbringen, wirklich Angebote für alle zu entwickeln“, sagt Julian Schwarze, Fraktionssprecher der Kreuzberger Grünen. „Wochenmärkte schaffen das schließlich auch.“

Prinzipiell steckten hinter dem Konflikt zwar größere politische Fragen, etwa die nach der ungleich verteilten Subventionierung von Lebensmitteln. Trotzdem glaubt Schwarze, dass die Situation kurzfristig verbessert werden könnte. „Die Gründung eines Markthallenrats, über den die Anwohner Einfluss auf die Ausgestaltung nehmen können, wäre ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt er. Aldi zum „Retter der Kiezstruktur“ zu erklären, sei übertrieben. „Aber es stimmt, dass es Treffpunkte geben muss, an denen ich mich auch ohne Konsumzwang aufhalten kann.“

Die Markthallenbetreiber selbst hatten bereits für Dienstagabend zu einem runden Tisch geladen, um den es allerdings ebenfalls Streit gab: Weil die Anwohnerinitiative zu spät eingeladen worden sei, sagten auch Bizim Kiez und das Kreuzberger Gewerbetreibendenbündnis Ora Nostra ihre Teilnahme ab. Statt fand das Treffen trotzdem, das Protokoll liegt der taz vor. Dort wird unter anderem folgender Satz festgehalten: „Ziel aller Beteiligten: Eine ‚Markthalle für Alle‘ gestalten!“ Die Markthallenbetreiber werden künftig also nicht mehr darum herum kommen, sich an dieser Parole messen zu lassen.

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1 Kommentar

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  • Um den Menschen die Rechte zurückzugeben, ihre Wohnumwelt selbst zu gestalten, sollte der Bezirk die Möglichkeit haben, wenn er solche Orte schon verkaufen will, diese direkt an die dort lebende Bevölkerung zu verkaufen. Damit diese das Kapital auch dafür haben, müsste es Mittel geben, die den Menschen dort als zinslosen Kredit zur Verfügung gestellt wird aus staatlichen Mitteln.Da das Ding ja durch die Mieteinnahmen Gewinn abwirft und die Bewohner nur mitgestalten wollen und keinen Profit damit machen, wäre dies eine Art, den Kapitalismus und diese Privatisierungen wenigstens insofern demokratisch zu gestalten, als dass diejenigen, die davon betroffen sind, auch die Möglichkeit erhalten, dort was zu gestalten.