Streit über das Volkstheater Rostock: Die Zauberformel
Tanzen, spielen, singen gehört zum Volkstheater Rostock, findet Intendant Sewan Latchinian. Dafür legt er sich mit der Politik an.
Die Stadt hat ein Theater, ein ewiges Provisorium, hässlich, teuer. Nicht ihr Ding, finden viele Bürger von Rostock. Überbewertet. Braucht die Stadt wirklich das volle Programm: Tanz, Oper, Schauspiel, Konzert? Elf Intendanten hat es seit 1989 verschlissen. Vor einem Jahr holte man Sewan Latchinian als neuen Leiter. Der hatte in Senftenberg bewiesen, wie man in Zeiten knapper Finanzen erfolgreich Theater macht.
Kaum in Rostock, empfahl man ihm, von vier Sparten zwei abzuwickeln. Kommt gar nicht infrage, sagte Latchinian. Seither geht eine Fehde zwischen ihm und der Stadt in Person ihres Oberbürgermeisters Roland Methling. Weil der Theatermann die Schließungspläne als Kulturraub à la „Islamischer Staat“ bezeichnete, entließ ihn der Oberbürgermeister (OB) fristlos. Die Abgeordneten der Bürgerschaft machten die Kündigung rückgängig. Es herrscht Burgfrieden. Einer Lösung der Probleme sind die Kontrahenten nicht näher gekommen. Will die Stadt nun ein Theater? Und wenn ja, welches? Wie viel darf es kosten? Rostock zeigt die Krise des Stadttheaters modellhaft.
Sewan Latchinian, Jahrgang 1961, empfängt in seinem Intendantenbüro. Blaugrauer Anzug, hellblaues Hemd. Keine Haare. Er ist Intendant, Regisseur, Schauspieler, ein Kind der DDR mit armenischen Wurzeln, an der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin ausgebildet. An der sonst kargen Wand ein Ölgemälde, das einen Schiffbruch zeigt. Die Gekenterten sitzen im Rettungsboot. Das Schiff dient Latchinian auch als Sinnfigur für sein Theater: Proben finden im „Heck“ oder „Bug“ statt, am 26. September ist „Stapellauf“, großer Auftakt zu Saisonbeginn. Latchinians Zeit zwischen den Proben ist knapp bemessen, er inszeniert das meiste selbst. Ist er als Sieger aus der Fehde hervorgegangen? Das wäre zu hoch gegriffen, findet er. „Diese Schlacht habe ich gewonnen, aber der Kulturkampf geht weiter.“
Der Kulturkampf trägt die Formel 2+2. Sie ist schwammig und kommt von ganz oben, vom Kultusministerium in Schwerin, das Mecklenburg-Vorpommern in eine Theaterstrukturreform presst. Das Volkstheater ist jetzt eine GmbH, der OB sein Gesellschafter. Da aber das Land knapp die Hälfte des Gesamtetats von 16,6 Millionen Euro bestreitet, will es mitreden, reinreden. Es ist sogar bereit, einen Neubau für 50 Millionen zur Hälfte zu finanzieren, sofern sich das Theater an seine Vorgaben hält. Ursprünglich erwünscht war, dass zwei der vier Sparten gespart werden: Tanz- und Musiktheater sollten durch Fusionierung oder Kooperation mit anderen Bühnen ersetzt werden. Das ist vorläufig vom Tisch. Im Mai haben Stadt, Land und Theater vereinbart, dass das Theater sparen muss. Unklar bleibt, wo und wie.
Fantasie gegen Mangel
„Wir klagen nicht über unseren bescheidenen Etat“, sagt Sewan Latchinian. „Es darf nur nicht noch weniger werden.“ Er sieht den „materiellen Mangel als Chance“, will ihn mit „poetischer Fantasie“ wettmachen. Das klingt gut, doch wie sieht dieser kreative Reichtum aus? Es gehe um Dinge, die nicht viel kosten, aber Wirkung zeigen. „Ein einfaches Konzept von Volkstheater.“ Latchinian assoziiert drauflos: Volkswagen, volkseigen, die 89er Parole „Wir sind das Volk“, die Inschrift „Dem deutschen Volke“ am Reichstag. „Das ist doch alles hochspannend“, sagt er. „Was bedeutet heute Volk? Gibt es das überhaupt noch? Was ist Demokratie?“ Für Latchinian ist Demokratie gleichbedeutend mit Theater; wer das schließen will, handle schlicht „undemokratisch“. Hört man ihm zu, bekommt man eine Ahnung davon, wie es ihm gelingen könnte, in seinen Mitarbeitern Feuer und Elan zu entfachen.
Der Intendant argumentiert moralisch, sein Geschäftsführer inhaltlich. Stefan Rosinki, auch er Jahrgang 1961, mit Westsozialisation, ebenfalls Anzugträger, dunkles Anthrazit, kennt sich aus mit Zahlen, mit Geschichte, mit Theorie, mit Theater. Er war Direktor der Berliner Opernstiftung und kurze Zeit Chefdramaturg an der Berliner Volksbühne von Frank Castorf.
In seinem Büro wird man in eine lehrreiche Diskussion verwickelt, in der der Soziologe Niklas Luhmann ebenso auftaucht wie der Dramatiker Heiner Müller, von dem ein Plakat an der Wand hängt. „Vorsicht, Optimist“ steht darunter. „Rostock ist bundesweit bestimmt eines der härtesten Pflaster für Theater“, sagt Rosinski.
Tragende bürgerliche Schicht fehlt in Rostock
Das liegt nicht nur an allgemeinen Sparzwängen, das liegt auch an Rostock selbst. „Seit der Wende gibt es Schließungs- und Tötungsfantasien gegenüber dem Volkstheater“, sagt Rosinski. Dabei war es zu DDR-Zeiten unter dem Intendanten und ZK-Mitglied Hanns Anselm Perten eine Vorzeigeinstitution, es durfte Tourneen ins Ausland machen – so wie Rostock als Hafenstadt überhaupt einen Sonderstatus im Außenhandel der DDR einnahm, erklärt Rosinski. Mag sein, dass diese hochgradige Identifikation mit der SED und dem Staat zu einer unbewussten Ablehnung geführt hat, spekuliert er. Nach der Wende wanderten viele ab, die Hinzugezogenen identifizierten sich nicht mit der Kommune. „Es fehlt die tragende bürgerliche Schicht“, analysiert Rosinski, „dies ist eine postsozialistische Gesellschaft, die nicht weiß, wie sie mit sich selbst kommunizieren soll.“
Bis 2020 ist das Budget eingefroren. Geschäftsführer Rosinski hat Anfang September wie verlangt Reformszenarien vorgerechnet, wie sich die Kostensteigerungen der nächsten Jahre auffangen lassen. Die Rede ist von 2,3 Millionen Euro. Alle vier Sparten blieben erhalten, müssten aber verschlankt werden. In Rente schicken, Verträge auslaufen lassen, kündigen. Letzteres will keiner, problematisch ist alles.
Das Volkstheater zählt noch 280 Angestellte, der Stellenüberhang ist abgebaut, ein Standort geschlossen. Will die Stadt klassische Konzerte, braucht sie ein Orchester – ein halbes nützt nichts. 73 Musiker gehören zur Norddeutschen Philharmonie Rostock, der Chor hat 26 Sänger, 8 Tänzer und 15 Schauspieler stehen unter Vertrag. Das ist nicht viel für eine Stadt mit 200.000 Einwohnern, die als Hafenstadt wirtschaftliches Potenzial besitzt und wächst.
Weniger Lohn, mehr Oper
2013 ist das Volkstheater aus dem Bühnenverein ausgetreten. „Eine Art Arbeitgeberverband, der manchmal Gewerkschaftspositionen gegen die Gewerkschaften vertritt“, erklärt Rosinski amüsiert. Damit hat das Theater Handlungsfreiheit und kann mit den verschiedenen Sparten-Gewerkschaften Haustarife verhandeln. Die Mitarbeiter sowie die Gewerkschaften seien bereit, „in Maßen Lohnverzicht zu üben“, sagt Rosinski, um Arbeitsplätze zu erhalten. Man rückt zusammen – gegen den Willen der Theaterreformer, die für Umstrukturierung, Stellenabbau und Tariflöhne plädieren.
Der parteilose Oberbürgermeister Roland Methling hat in diesen Tagen keine Zeit, er muss sich um die ankommenden Flüchtlinge kümmern. Er lässt durch seinen Pressesprecher erklären, er sei für alle Lösungen offen, die dazu führen, dass das Theater dauerhaft ohne steigende Zuschüsse auskomme. Was wieder zu der Frage führt: Was für ein Theater will und braucht Rostock?
Was soll das Stadttheater eigentlich leisten?
Auch wenn sie rund um die Uhr für Flüchtlinge im Einsatz ist, findet Eva-Maria Kröger von der Linken eine Stunde Zeit. „Wir sind festgefahren“, entfährt ihr ein Seufzer. Aber immerhin seien nun alle wieder miteinander im Gespräch. Kröger ist Vorsitzende des Theater-Aufsichtsrats, trägt kurze blonde Haare, Jeans, schwarzen Blazer. „Warum man ein Theater verkleinern soll, wenn man ein neues bauen will, das versteht keiner“, sagt sie. „Ich auch nicht.“
Sie glaubt, dass die Zielvereinbarung zwischen Kultusministerium, Stadt und Theater ohne Kündigungen nicht zu erfüllen ist. „Ich wünsche mir, dass alle das allmählich begreifen.“ Sie ist skeptisch, dass bei dem jüngsten Reformvorschlag „etwas Überlebensfähiges herauskommt“. Oder zumindest ein Theater, mit einem anspruchsvollen ästhetischen Konzept – poetischer Reichtum hin oder her.
Kröger vermisst auch eine inhaltliche Diskussion. Wie muss Stadttheater heute aussehen? Sind Sparten überhaupt noch zeitgemäß? Welche Bedürfnisse sollte Theater erfüllen? „Diese Debatte wird nicht geführt“, sagt die 33-Jährige. „Aus den Inhalten müsste man Strukturen generieren und aus den Strukturen den Finanzbedarf. Und nicht umgekehrt.“ Persönlich geht sie lieber ins Konzert als in Theater, wie viele Rostocker. „Dies ist eine Musik- und Opernstadt“, sagt Kröger, sagen eigentlich alle. Betriebswirtschaftlich machen in Rostock nur die Sparten Orchester und Musiktheater Sinn, haben auch die externen Gutachter festgestellt.
Mehr Zeit für Sewan Latchinian
Für Tobias Karn wäre die Schließung des Schauspiels absurd. Er hat mit anderen im April vor dem Rathaus demonstriert und die Wiedereinstellung des gekündigten Latchinian gefordert. Der 25-jährige Darmstädter ist Schauspielstudent an der Hochschule für Theater und Musik (HMT), einem spektakulären Bau im ehemaligen Katharinenstift, der Mittelalter und Moderne vereint. „Ich muss mir doch auch Theater angucken, ich will mich orientieren“, sagt Karn. „Sie hätten Latchinian Zeit geben müssen.“ Der Intendant des Volkstheaters sollte im Frühjahr das jährliche Kooperationsprojekt mit den Studenten der HTM betreuen. Es ging um eine szenische Umsetzung von Interviews mit Menschen aus den ehemaligen Ostblockstaaten. Weil Latchinian wochenlang in der Verbannung war, übernahm ein Externer das Projekt.
Karn fühlt sich wohl in Rostock. Aber wer hier Kultur wolle, der muss sie suchen. „Als hätten sie Angst davor, dass Kultur Erfolg hat“, sagt der Diplomstudent. 40 Schauspielschüler hat Rostock. Nachwuchs für die Stadttheater. Zumindest Tobias Karn glaubt an das System.
„Ich habe mich immer danach gesehnt, Theater zu machen, das wichtig ist“, sagt er. Politisches, experimentierfreudiges Theater. Geschäftsführer Stefan Rosinski sieht vor allem im Schauspiel „Chancen, neue Formate zu entwickeln“. Und damit neue, vielleicht weniger starre Strukturen? Vielleicht. „Theater ist Krise“, sagt er mit Heiner Müller. „Das muss man ernst nehmen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?