piwik no script img

Straßenhändler in BrasilienRazzien gegen Camelôs

Viele in Brasilien sind auf den Straßenhandel angewiesen. Häufige Razzien und Übergriffe durch Sicherheitskräfte machen es ihnen gerade schwer.

Straßenhändler in Rio de Janeiro Foto: Ricardo Moraes/reuters

A uf der weltbekannten Promenade des Copacabana-Strandes ist an diesem Nachmittag eigentlich alles wie immer. Aus den Touristenbars dröhnt Samba-Musik, und Bett­le­r*in­nen dösen am Rand, während Menschen aller Altersgruppen über den siedend heißen Asphalt joggen, walken und skaten. Nur eine Sache ist anders: Im Schatten eines Baumes bildet sich eine Menschentraube. Es sind Straßenhändler*innen, die heute nicht arbeiten: Sie protestieren. Denn in den letzten Wochen hat es zahlreiche Übergriffe durch Sicherheitskräfte gegeben. Kurzzeitig drohte die Situation aus dem Ruder zu laufen.

Eine der De­mons­tran­t*in­nen ist Márcia Cristina Siqueira dos Santos, eine große 38-jährige Frau mit kurzen krausen Haaren. Sie reckt ein Schild mit einer Aufschrift in die Höhe: „Die Leben von Straßenhändlern zählen.“ Wütend ist sie, dass am Tag davor schon wieder Mit­ar­bei­te­r*in­nen der Stadtverwaltung und der städtischen Polizei anrückten und die Waren von Kol­le­g*in­nen beschlagnahmten. „Wir wollen doch nur in Frieden arbeiten.“

Die Stra­ßen­händ­le­r*in­nen (camelôs) gehören zu Rio de Janeiro wie der Karneval, die Eckkneipen mit Plastikstühlen und die malerische Hügellandschaft. Von Bierdosen bis Bikinis kann man dort fast alles kaufen. Auf Initiative von Bürgermeister Eduardo Paes gingen die Stadtverwaltung und die städtische Polizei in den letzten Wochen rabiat gegen Ver­käu­fe­r*in­nen vor. Großangelegte, medienwirksam inszenierte Razzien. Waren wurden abgenommen, und an einigen Tagen arteten die Operationen zu regelrechten Straßenschlachten aus. Die Spuren davon sieht man auch noch an diesem Nachmittag: Einige der Demonstrierenden haben Wunden am Kopf.

Die Stadtverwaltung argumentiert, die allermeisten Händ­le­r*in­nen würden ohne Genehmigungen arbeiten. Und das stimmt. „Wir würden gerne unsere Arbeit regularisieren“, schimpft Siqueira. „Aber die Stadtverwaltung setzt das nicht um.“ Rund 60.000 Stra­ßen­händ­le­r*in­nen sollen derzeit auf eine Registrierung warten. Siqueira verkauft seit vielen Jahren Kleidung und Kunsthandwerk am Copacabana-Strand. Sie ist auf das Geld angewiesen, denn sie ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern und hat nur wenige Jahre die Schulbank gedrückt. Wie so viele Stra­ßen­händ­le­r*in­nen ist sie schwarz und Bewohnerin einer Favela.

Ein sozialer Aufstieg ist in Brasilien schwierig

Der jüngste Konflikt in Rio de Janeiro spiegelt ein tiefliegendes Problem wider. Viele marginalisierte Menschen haben auf dem formellen Arbeitsmarkt Brasiliens keine Chance. Ein sozialer Aufstieg ist aufgrund des schlechten öffentlichen Bildungssystems schwierig. Fensterlose Klassenzimmer mit mehr als 40 Schü­le­r*in­nen und völlig unterbezahlten Leh­re­r*in­nen sind keine Seltenheit. Die Angriffe des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro auf den Bildungssektor haben die Situation noch zusätzlich verschärft.

Millionen Bra­si­lia­ne­r*in­nen sind darauf angewiesen, Süßigkeiten am Straßenrand zu verkaufen oder unangemeldete Gelegenheitsjobs zu erledigen. In ganz Brasilien arbeiten 40 Prozent der Bevölkerung informell. Rio de Janeiro ist der Bundesstaat mit der höchsten Rate. Viele hoffen nun auf den neuen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Im Wahlkampf übergaben Händ­le­r*in­nen einen Brief mit Forderungen an den ehemaligen Gewerkschaftsführer. Und Lula versprach, sich für sie einzusetzen. Allerdings: Viel wird auf städtischer Ebene entschieden.

Eine Protestaktion Ende Januar an der Copacabana Foto: imago

Beim Protest am Copacabana-Strand wuselt eine kleine Frau in knallorangenem T-Shirt umher. Es ist Maria de Lourdes, 48 Jahre, seit mehr als einem Vierteljahrhundert Straßenhändlerin. Heute ist sie die Vorsitzende einer Vereinigung von Stra­ßen­händ­le­r*in­nen in Rio de Janeiro. Sie glaubt: Wenn sie und ihre Kol­le­g*in­nen keine Waren mehr verkaufen, landen sie in der Obdachlosigkeit. „Rio de Janeiro ist nur wundervoll für diejenigen, die Geld haben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Niklas Franzen
Autor
Niklas Franzen, Jahrgang 1988, ist Journalist und ehemaliger Brasilien-Korrespondent. Im Mai 2022 erschien sein Buch “Brasilien über alles - Bolsonaro und die rechte Revolte” bei Assoziation A.
Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!