Straßenblockaden der Letzten Generation: Seien Sie ruhig sauer
Ein Autofahrer versucht, Klimaaktivist*innen von der Straße zu zerren. Warum Wut im Straßenverkehr völlig okay ist, Selbstjustiz aber nicht.
B remen, neun Uhr morgens. Auf der riesigen T-Kreuzung Stresemannstraße/Steubenstraße, zwischen Bürgeramt, Baumarkt und Autoläden, dort, wo Autofahrer*innen sich scheinbar manchmal so fühlen wie auf der Landstraße, nimmt ein weißer Kleintransporter beim Rechtsabbiegen einem Radfahrer die Vorfahrt. Die Bremsen des Rades quietschen, sein Fahrer schreit: „Ey!“
Der Van steht schon mitten auf der Spur des Mannes, will sogar weiterfahren, ohne das Rad vorher vorbeizulassen. Es folgt ein Stop-and-go beider, ein Schlag das Radfahrers an die Außenwand des Autos, ein weiterer Schrei.
Alle Menschen, die Rad fahren, kennen wohl dieses Gefühlschaos: unbändige Wut, Dankbarkeit, noch zu leben – und den Impuls, diesen einen Gedanken „Hätte ich doch nur …“ Aber was? „Hätte ich doch nur noch lauter geschrien?“ „Wäre ich doch nur in die Fahrerkabine gesprungen und hätte ihm eine reingehauen?“
Bevor nun der Eindruck entsteht, dies sei eine Hassrede an Autofahrer*innen: Ist es nicht. Es ist ein Text voller Verständnis für alle Gefühle im Straßenverkehr.
Sogar Autofahrende leiden
Es sind nicht nur Radler*innen, die von Rad- oder Autofahrenden bedrängt oder von Fußgänger*innen ausgebremst werden. Auch Leute, die zu Fuß unterwegs sind, leiden unter Unachtsamkeiten der beiden anderen Gruppen, unter schmalen, zugeparkten Wegen, ätzenden Ampelphasen. Sogar Autofahrende haben es nicht leicht: wenn Menschen einfach bei Rot gehen oder fahren, andere Autos drängeln – oder wenn sich Protestierende der „Letzten Generation“ vor ihnen auf die Straße kleben.
Wer dann zu einem Arzttermin oder das kranke Kind aus der Kita abholen muss, hat jedes Recht, wütend zu sein. So auch der Mann, der Anfang der Woche in Göttingen mit vielen anderen vor einer blockierten Kreuzung ausharren musste. „Ich muss arbeiten“, rief er, noch bevor die Polizei da war, und zerrte Aktivist*innen von der Straße, wie ein Video belegt. Diese setzten sich natürlich kurz danach wieder an ihren Platz. „Halt die Fresse“, rief der Fahrer, und: „Ihr Wichser.“
Recht auf Wut: ja. Recht auf Selbstjustiz: ganz klar nein. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) stellt trotzdem die Frage, ob Autofahrer „eigenhändig die Straße freiräumen dürfen“. Der zitierte Polizeisprecher stellt dann zum Glück klar: Dürfen sie natürlich nicht. Es handele sich schließlich um eine Versammlung. Laut HAZ habe der Autofahrer sogar gedroht: „Setz dich wieder hin und ich breche dir die Beine.“
Dass die HAZ das Thema auf diese Art aufgreift, ist nicht nur unnötig, sondern auch unangenehm. Denn es zeigt eine Ungerechtigkeit – Autofahrer kann wegen der Blockade nicht zur Arbeit –, die im Vergleich zu anderen Ungerechtigkeiten klitzeklein ist.
Mehr verunglückte Radfahrende
Zum Beispiel, dass Menschen ohne Blechpanzer bei Unfällen immer benachteiligt sind. Im ersten Halbjahr 2022 ist die Zahl der verunglückten Radler*innen in Hamburg und Schleswig-Holstein gestiegen – im Stadtstaat um fast 25 Prozent im Vergleich zu 2019, vor allem mit Pedelecs. Um die gleiche Prozentzahl sanken die Verunglückten im Pkw oder Lkw. Weil jetzt einfach mehr Menschen Rad fahren? Vielleicht. Das ändert aber nichts daran, dass die absolute Zahl der Verletzten gestiegen ist.
Und da wäre noch die Ungerechtigkeit der Klimakrise, für deren Bekämpfung sich die Aktivist*innen einsetzen. Weil sie finden, dass die Politik immer noch viel zu wenig tut, greifen sie inzwischen zu drastischen Mitteln. Das ist verständlich angesichts der Katastrophe, die vor allem auf die Jüngeren zurollt.
Natürlich fühlt es sich unfair an, wenn einen so eine Blockade selbst trifft. Trotzdem: Auf den Gedanken, sich selbst zu wehren, darf nie eine Handlung folgen. Wenn Sie das nächste Mal in einer solchen Blockade stehen, denken Sie dran: Diese Menschen haben jedes Recht, auf das größte Problem aufmerksam zu machen, dass die Menschheit jemals hatte. Und Sie und Ihre Pläne sind in diesem ganzen großen Zirkus relativ unwichtig.
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