Straßburger Urteil gegen die Türkei: Menschenrecht ist 12.300 Euro wert
Knapp vier Jahre nach seiner Freilassung aus türkischer Haft hat Deniz Yücel teilweise Recht vor dem Europäischen Menschengerichtshof bekommen.
taz | Die Türkei muss dem deutschen Journalisten Deniz Yücel eine Entschädigung in Höhe von 12.300 Euro plus 1.000 Euro an Verfahrenskosten zahlen. Das entschied an diesem Dienstag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg und gab damit einer Beschwerde Yücels statt. Er war ab Februar 2017 ein Jahr lang in der Türkei inhaftiert.
Yücel ist in Deutschland aufgewachsen und hat die deutsche und türkische Staatsbürgerschaft. Er schrieb zunächst für die linke Wochenzeitung jungle world, war dann einige Jahre lang taz-Redakteur, bevor er 2015 für die Zeitung Welt als Korrespondent in die Türkei ging.
Im Februar 2017 meldete sich Yücel freiwillig bei der Polizei in Istanbul, weil er gehört hatte, dass gegen ihn ermittelt wird. Jedoch konnte er nicht wie geplant als Zeuge aussagen, sondern wurde sofort inhaftiert. Die anschließende Untersuchungshaft dauerte rund ein Jahr bis zum 16. Februar 2018. In Deutschland löste die Inhaftierung Yücels große Empörung aus. Auf Druck der Bundesregierung wurde Yücel dann freigelassen. Er lebt seitdem wieder in Deutschland.
Ursprünglich wurde Yücel von der türkischen Staatsanwaltschaft vorgeworfen, in Hacking-Straftaten verwickelt zu sein. Später wurden ihm dann acht journalistische Texte vorgehalten. Dabei soll er sowohl Propaganda für die kurdische PKK als auch für die angebliche Terrororganisation Fetö des konservativen Predigers Fetullah Gülen verbreitet haben – was schon die Wahllosigkeit der Vorwürfe zeigt.
Kein ausreichender Verdacht für eine Straftat gegeben
Außerdem wurde ihm vorgeworfen, Feindschaft und Hass zu erzeugen, etwa zwischen Türken und Kurden, die doch „Geschwister“ seien. So erzählt Yücel in einem Text die Anekdote, dass ein Kurde und ein Türke zum Tode verurteilt werden. Der Kurde will dabei als letzten Wunsch seine Mutter noch einmal sehen. Dagegen wünscht sich der Türke nur, dass der Kurde sterben muss, ohne seine Mutter noch einmal gesehen zu haben. Eine solche Haltung kennzeichne die Politik der Türkei gegenüber den Kurden.
Nach seiner Freilassung rügte das türkische Verfassungsgericht im Mai 2019 Yücels Untersuchungshaft. Es habe keinen ausreichenden Verdacht für eine Straftat gegeben. Dennoch wurde der Journalist im Juli 2020 durch ein Gericht in Istanbul wegen Verbreitung von PKK-Propaganda zu einer Freiheitsstrafe von knapp drei Jahren verurteilt. Das Urteil fiel in Abwesenheit Yücels. Nach Darstellung der Welt laufen in der Türkei noch zwei weitere Prozesse gegen Yücel, unter anderem wegen Beleidigung des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Das nächste Urteil wird für den 8. Februar erwartet.
Das Verfahren vor dem EGMR hatte sich hingezogen, weil die Straßburger Richter offensichtlich den Fortgang der Prozesse in der Türkei abwarten wollten. Dass das türkische Verfassungsgericht Yücel teilweise Recht gab, genügte dem EGMR nun aber nicht. Die dort zugestandene Entschädigung von umgerechnet 3.700 Euro sei offensichtlich unzureichend.
Verurteilt wurde die Türkei nun vor allem aus zwei Gründen: Zum einen habe die Inhaftierung Yücels dessen Recht auf persönliche Freiheit verletzt, zum anderen sein Recht auf Meinungsfreiheit. Bei beiden Punkten stellten die Richter:innen darauf ab, dass es „keinen plausiblen Verdacht“ gab, dass er Straftaten begangen haben könnte. Die Verhaftung von kritischen Journalisten habe nicht nur für diese negative Auswirkungen, sondern auch für die türkische Gesellschaft, so der EGMR, indem die Zivilgesellschaft so eingeschüchtert werde und der Staat dissidente Stimmen zum Verstummen bringe.
Yücel kritisierte den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Mit vier zu drei Richterstimmen lehnte der EGMR eine weitere Verurteilung der Türkei ab. Zwar habe Yücel nicht vollen Zugang zu den Ermittlungsakten gehabt, allerdings habe er bei den Vernehmungen in ausreichendem Maße erfahren, was ihm vorgeworfen wurde.
Deniz Yücel
Außerdem lehnte es der EGMR ab, sich mit der von Yücel beantragten Feststellung zu befassen, dass die türkische Regierung mit der Inhaftierung eine Einschüchterung der Bevölkerung gezielt bezweckt und/oder ein Tauschgeschäft mit der deutschen Regierung angestrebt habe. Zwei der sieben Richter fanden es allerdings durchaus angebracht, sich mit diesem Verdacht zu beschäftigen.
Auch Deniz Yücel kritisierte deshalb den EGMR. „Ich vermute, damit dürfte nicht einmal Recep Tayyip Erdoğan gerechnet haben“, sagte er der Welt. Schließlich habe Erdoğan ihn wiederholt öffentlich persönlich angegriffen. „In diesem Verfahren gibt es keine Faser, die nicht politisch motiviert gewesen wäre.“
Zudem kritisierte Yücel, dass der EGMR die Türkei nicht auch wegen Folter verurteilt hatte, und verwies auf seine neunmonatige Isolationshaft und die psychische und körperliche Gewalt, der er im Hochsicherheitsgefängnis Silivri Nr. 9 ausgesetzt war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW