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Stendal-Stadtsee. Eine Ortserkundung (1)Am äußersten Rand

Arbeitslose, Wendeverlierer, Alleinerziehende: Armut ballt sich in manchen Vierteln. Wie es klingt, wenn man mit den Bewohnern statt über sie redet.

Rund 10.000 Menschen leben noch in Stendal-Stadtsee, das einst ein Vorzeigeviertel war Foto: Sebastian Wells

Stendal taz | Die letzte Grenze liegt hinter dem Shoppingcenter. Über den halbrunden Vorplatz, den sie „die Platte“ nennen, geht es herab in eine Siedlung aus lose verstreuten Plattenbauten; dazwischen Wiesen, menschenleere Gehwege, milchige Apathie, da und dort raucht einer auf dem Balkon, Winter in Stendal, irgendwo zwischen Magdeburg und Wittenberge, knapp 130 Kilometer entfernt von Berlin.

Brina: So Getto ist das hier gar nicht. Es ist halt Plattenbau, mein Gott. Probleme gibt’s doch in anderen Städten auch.

Frances: Ich bin weggezogen und wieder her. Das Viertel zieht einen immer wieder zurück.

Max: Ich fühl’ mich wohl am Stadtsee. Mich stört nur, dass die Leute Brücken beschmieren mit Graffitis, die gar nicht hierher passen: „Fick die Kripo“ zum Beispiel. Von sowas kommt, dass die Leute Stendal als Asi-Kaff bezeichnen.

Deutsche Zustände

Um zu verstehen, warum Deutschland immer ungleicher wird, hilft es, einige Zeit in Stendal-Stadtsee zu verbringen. In manchen Siedlungen des Stadtteils leben rund 80 Prozent der Familien an der Armutsgrenze. Doch was bedeutet die Abhängung ganzer Viertel für die Grundwerte der Demokratie? Einigkeit, Recht, Freiheit – eine Ortsbegehung in drei Episoden.

Nächste Woche: Recht. Warum der Aufstieg aus prekären Verhältnissen häufig unmöglich ist.

Im Zukunftsatlas hinten

Stadtsee III, am äußersten Rand von Stendal. Problemviertel, sozialer Brennpunkt, das sind Begriffe, benutzt von Menschen, die nicht hier leben, sie können Missstände benennen, aber sie erzählen nicht die Geschichten dahinter. Im Zukunftsatlas des Prognos-Instituts belegt Stendal den letzten Platz. Wirtschaftskraft, Arbeit, soziale Lage – glaubt man der Studie, sind die Aussichten nirgends schwärzer.

Der Wind fährt über stille, saubere Straßen, ein Himmel grau wie Leberwurst hängt über den Blocks. Die Fassaden sind bunt, orange, grün oder türkis.

Herr Jany: Das ist eine Ecke, wo man merkt: Die Geburtenrate ist ziemlich hoch. Hund, Kind, Handy – das sind die drei Sachen, mit denen man die jungen Frauen immer sieht. Aber warum auch nicht? Ich find’s schön, wenn Kinder da sind.

Christoph (li.) und Max trainieren im MAD-Jugendclub Foto: Sebastian Wells

Max: Über das Abitur habe ich nicht nachgedacht. Ich bin mit meiner Mutter alleine. Die meint, es reicht, wenn ich den erweiterten Realschulabschluss mache. Ich will später als Bibliothekar oder Lagerlogistiker arbeiten.

Brina deutet nach rechts und nach links auf Wohnblocks, die noch grau und unsaniert sind. Hier ist sie aufgewachsen.

Brina: Ich nenn’ es die Kack-Allee. Weil meine Hunde sich hier auskacken.

Brina und Frances sind 28 Jahre alt. Sie haben früh Kinder gekriegt; Brinas sind jetzt fünf und sechs, Frances’ sechs und acht. Die zwei kennen sich aus, jedes Gesicht ist ihnen vertraut. Sie sprechen über ihr Viertel mit Stolz, Fremdenführerinnen durch ihre Welt, Frances mit Undercut und Nasenring und Brina, die ihre dunklen Haare zum Dutt gebunden hat, sie rauchen, an der Leine ein Rottweiler, Frances ist wieder schwanger.

Brina: Hier sind so viele Leute gestorben. Einer hat einen vom Balkon gestoßen. Ich bin hingelaufen und hab ihn umgedreht. Es sah aus, als würde er schlafen. Aber wo seine Nase war, da war nur noch ein Loch.

Max: Ich lese gern, japanische Fantasy, da bin ich ein großer Fan von. Deshalb Bibliothekar. Auf Lagerlogistiker bin ich gekommen, als wir von der Schule eine Berufsmesse besucht haben. Bibliothekar gab es nicht, dann hab ich mich umgeguckt und Lagerlogistiker gefunden.

Unsichtbare Grenze

Vom Stadtzentrum geht es raus in Richtung Osten, Stadtsee I, Stadtsee II, Stadtsee III, am Ende steht der soziale Abstieg. Vier von fünf Familien leben in prekären Verhältnissen; kaum einer, der nicht Hartz IV kriegt. Wer in Stadtsee III lebt, für den spielt es keine Rolle, ob die Wirtschaft wächst oder nicht.

Man kann die Grenze nicht sehen, aber jeder hier weiß, dass sie da ist: Dort, wo das Shoppingcenter steht, schließt Stadtsee III an Stadtsee II. Auf dem Vorplatz haben sich zwei alte Frauen niedergelassen.

Rentnerin: Wir sind hergezogen, weil mein Mann hier Arbeit gekriegt hat, auf dem Bau, als Kraftfahrer. Das macht er heute noch, obwohl er Rentner ist, aber davon kannste ja nicht leben.

Stadtsee, das war einmal ein Vorzeigeviertel. Zu DDR-Zeiten zählte Stendal zu den wichtigsten Industriezentren, in den 80ern wurde hier mit dem Bau eines Atomkraftwerks begonnen. Großwohngebiete wurden am Stadtrand aus dem Boden gestampft, Platte um Platte. Zur Zeit der Wende lebten mehr als 50.000 Menschen in Stendal. Heute sind es noch 40.000.

Rentnerin:Wir wohnen hier gut. Nur Angst musst du haben, wegen der ganzen Ausländer. Ein furchtbares Volk ist das, die kommen und kriegen alles umsonst. Mein Mann hat 50 Jahre lang gearbeitet – und was kriegt der für eine Rente?

Je stärker die Ungleichheit wächst, umso weniger Berührungspunkte gibt es zwischen den Schichten. Gemeinsinn existiert vielleicht innerhalb mancher Milieus, aber nicht mehr dazwischen: Für Mitgefühl oder Großzügigkeit reicht die Kraft nicht. Die alte Frau schaut auf die Blocks von Stadtsee III.

Rentnerin:Das ist ein richtiges Asi-Viertel. Die da wohnen, sind zu faul zum Arbeiten. Früher zu Ostzeiten war es besser. Da gab es Arbeit. Und wer nicht wollte, den haben se weggeholt.

Frances:Einige meiner Freunde hatten mal Arbeit, die haben jetzt Bandscheibenvorfälle. Der eine war Totengräber, der kann nichts mehr machen.

Brina:Ich mach’ keine Ausbildung mehr. Ich hab so oft angefangen, ich hab’ da den Willen nicht zu. Du kriegst sowieso keinen Job. Meine Schwester hat eine Ausbildung als Mode­designerin, mein Bruder hat Maurer gemacht. Die kriegen auch nichts. Aus dem Grund sag ich: Ne. Es gibt ja auch Nebenjobs.

Wer kann, ist längst weggegangen; viele der Wohntürme wurden abgerissen. Rund 10.000 Leute leben noch hier, knapp 16 Prozent davon Ausländer, 7.300 Wohnungen auf 150 Hektar, Platte an Platte, Fenster an Fenster. Gerd Jany, 79 Jahre, lebt in der Heinrich-Zille-Straße, erster Stock links, an den Wänden Aquarelle, er hat Hühnersuppe gekocht.

Gerd Jany ist Rentner und lebt seit 15 Jahren in dieser Wohnung Foto: Sebastian Wells

Herr Jany:Ich habe mir die Gegend angeguckt und fand dieses Objekt, für Senioren, hieß es, altersgerechtes Wohnen. Naja. Wir haben einen Fahrstuhl, und die Stange im Korridor.

Gerd Jany lebt seit 15 Jahren in dieser Wohnung. Vor der Pensionierung hat er als Theatermaler gearbeitet. Seine Frau und er sind getrennt, die Kinder leben in Berlin. Früher hat er gern Radtouren in der Altmark gemacht. Ein Jahr ist es her, da hatte er einen Unfall, Beckenbruch, nun ist er oft zu Hause.

Durch seine Fenster hat er die Kinder im Viertel groß werden sehen; er sieht, wie die einen gehen und andere kommen. Viele Flüchtlinge sind hergezogen; Wohnraum ist billig, es gibt noch einigen Leerstand.

Frances und Brina laufen auf eine Anhöhe zu, oben ein Flachbau, davor haben sich einige Dutzend Männer versammelt, Iraker, Syrer, Afghanen.

Brina:Da hat’ne Moschee aufgemacht. Ein paar Leute haben Schweinefleisch davor geschmissen, um das zu verhindern, aber es hat nichts gebracht.

Einer der Zuwanderer steht auf dem Gehweg.

Brina:Ey, Platz machen!

Sie stapft vorüber, der Rücken des Rottweiler spannt sich.

Brina: Ich fühl’ mich hier unwohl. Weil hier ist nichts Deutsches mehr.

Sie halten zusammen

Es ist dieser Tage viel von den abgehängten Milieus die Rede, doch die Wut der Leute hier bleibt ohne politische Folge: Bei den Landtagswahlen haben in Stadtsee III um 35 Prozent AfD gewählt, aber fast zwei von drei Leuten haben gar nicht gewählt. Die Parteien erreichen das Viertel nicht, und das Viertel erreicht die Parteien nicht. Für die Demokratie sind das schlechte Nachrichten. Aber es gibt viele, denen ihr Leben hier gefällt, weil es ihr Zuhause ist.

Max: Ich warte auf ein bestimmtes Ereignis im Leben: den Stimmbruch.

Christoph:Er will endlich ein Mann sein.

Max geht mittwochs boxen; auch sein Freund Christoph kommt jede Woche. Im MAD-Jugendclub gibt es einen Trainingsraum mit Sandsack und Spiegel. Max ist 16, schmal und hoch. Später setzen sie sich auf eine Couch im Aufenthaltsraum.

Max:Früher war ich der Typ, den man ’rumschubsen konnte. An der Schule wurde ich gemobbt. Einmal hat jemand ein Bild gezeichnet, wie er eine Waffe auf mich richtet. Da haben die Lehrer gesagt, ich soll besser die Schule wechseln.

Max lebt mit seiner Mutter zusammen, sein Vater ist weg und meldet sich nicht mehr, die Mutter arbeitet als Reinigungskraft.

Max:Ich muss zu Hause viel mit anpacken. Wenn es meiner Mutter schlecht geht, hole ich ihr Eimer und feuchte Lappen. Wenn ich deshalb mal nicht in den MAD-Club kann, müssen meine Freunde das verstehen: Die Familie geht mir über alles.

Brina:Die meisten in Stadtsee halten zusammen. Das ist so.

Brina und Frances tasten sich vorsichtig über eine Wiese voran; das Eis ist zu schmutzigen Buckeln gefroren. Vor ihnen liegt der Spielplatz, auf dem sie im Sommer oft mit den Kindern sind. Frances wankt, ihr Bauch zieht sie nach vorn; in zwei Wochen soll das Baby kommen.

Frances:Ich hatte mich beworben für eine Ausbildung als Altenpflegehelferin, aber dann wurde ich schwanger. Die Ausbildung muss ich dieses Jahr machen. Ich will raus aus Hartz IV. Ich will ein Vorbild sein, damit meine Kinder mal was werden.

Herr Jany:Ich sage immer: Das ist eine schöne Kleinstadt, aber das Viertel hier ist ein bisschen außen vor. Es gibt viele Alte, die mit Rollator fahren, aber auf den Bürgersteinen mit den Asphaltplatten kommen sie kaum voran. Das ist furchtbar.

Max:Ich hätte gern einen YouTube-Kanal: Da würde ich Spiele vorstellen und die schönen Seiten von Stendal zeigen. Damit jeder sehen kann, wie es hier aussieht.

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10 Kommentare

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  • Dass die Einwohner eines solchen Viertels zu einer rechtsradikalen Partei tendieren ist nicht gesagt.

    Rechts wählt, wer es so schon länger gelernt hat.

    Leider gehen viele, die sich in Armut und Ausgrenzung befinden gar nicht auf die Barrikaden und auch meist nicht wählen.

  • Mich würden Wahlbeteiligung und Wahlergebnisse seit der "Wende" in diesen Stadtvierteln interessieren. Sind sie AfD-Hochburgen und wie hoch ist der Anteil der AfD-Wähler*innen an der Gesamtbevölkerung? Oder wird die AfD bevorzugt in den "besseren" Vierteln gewählt?

  • Wie schlimm es auch immer kommen mag: Es gibt nicht EINEN Grund eine Rassisten-Partei wie AfD oder gar NPD zu wählen!!! Es sei denn, man will den Bürgerkrieg...Denn der wäre bei wachsenen Zuspruch dieser gemein-gefährlichen Vollspacken unvermeidbar!

  • Was soll man raten? Vor 50 Jahren wurden die Leute dort hingeschickt. Die DDR wollte das Land industrialisieren. Hat sie auch geschafft. Der Preis war zu hoch, alles stürzte in sich zusammen. Jetzt gibt es für die Menschen nicht mehr viele Möglichkeiten: Abwandern, Resignation oder Landschaft zerstören (Autobahn oder Windkraftanlagen, sucht es euch aus....)

    • @Energiefuchs:

      Das Land war industialisiert bis die Wende und mit Ihr die Treuhand kam. Vermutlich zahlen die meisten Stendaler ihre Mieten an einen Eigentümer aus den alten Bundesländern.

      • @FriedrichH:

        Sorry, im Westen gibt es solche Stadtteile auch - mit der gleichen Problemlage.

        • @Hanne:

          Und wen soll das nun trösten?

           

          Im Osten waren die "Problemlagen" neu nach der Wende. Leider hatte "der Westen" keine große Lust, seinen "Erfahrungsvorsprung" irgendwie positiv einzubringen. Man wollte lieber abschrecken, wenn ich mich recht erinnere.

           

          Die Ossis wären einfach faul nach 40 Jahren DDR, hat es damals geheißen, und dass nicht vernünftig arbeiten würde, wer nicht richtig Angst hätte.

  • 8G
    87546 (Profil gelöscht)

    "...viele der Wohntürme wurden abgerissen". Dies ist sinnbildlich für das Leben dieser Menschen seit der Wende. Die Umbrüche gingen für die beschriebenen jungen Menschen und ihre Eltern nur mit sozialer Unsicherheit und Perspektivlosigkeit einher (was sich in den ersten Jahren nach der Wende mit Konsum übertünchen ließ). Das war bei den Westdeutschen nach dem 2. Weltkrieg komplett anders. Das waren Aufbaujahre, für die Menschen ging es wieder aufwärts. Materiel und vor allem bei den Perspektiven. Kein Wunder also, dass viele Menschen in prekären ostdeutschen Milieus nicht in der Demokratie angekommen sind und dort auch nicht ankommen wollen. Mit dem Bild von den blühenden Landschaften und in den Jahrzehnten seit der Wende haben sich die Politiker selbst Sand in die Augen gestreut (von wegen, das wird schon alles). Die (vor allem konservative) Politik sollte anfangen, dies wahrzunehmen, anstatt linken Kritikern des Sozialabbaus ständig ein Madigmachen des ach so tollen Landes vorzuhalten.