Stellenabbau beim Versandkonzern: Otto will deutsches Amazon werden
Der größte Versandhändler in Deutschland, die Otto GmbH, verbucht Rekordumsatz. Den nutzt das Unternehmen, um Arbeitsplätze abzubauen.
Nach Informationen der taz werden erste Abteilungen bereits in diesem Jahr geschlossen; Student*innen mit Werkverträgen, die leicht kündbar sind, wurden bereits zum bevorstehenden Semesterende vor die Tür gesetzt. Doch das ist nur der Anfang. Unter dem Projektnamen „New“ will die Otto-Gruppe bis 2023 einen Rationalisierungsplan durchboxen, mit dem sie – nach internen Firmenunterlagen, die der taz vorliegen – jährlich mindestens 50 Millionen Euro Kosten einspart. Dabei ist vom Wegfall von bis zu 400 Vollzeitstellen die Rede.
Auf einer digitalen Betriebsversammlung sollen die Rahmendaten von „New“ am kommenden Dienstag erstmals auch der Otto-Belegschaft vorgestellt werden. Die Gewerkschaft Ver.di ist alarmiert: „Otto gehört zu den großen Gewinnern der Coronakrise. Das verdankt der Konzern in erster Linie den Beschäftigten“, betont die Hamburger Verdi-Fachsbereichsleiterin Handel, Heike Lattekamp, und ergänzt: „Wenn dort jetzt tatsächlich über Personalabbau nachgedacht wird, zeugt dies von Profitgier und einer fehlenden sozialen Verantwortung gegenüber den Mitarbeiter*innen in der Konzernführung. Mit hanseatischem Respekt hat das nichts mehr zu tun.“
„Ein enormes Wachstum“ verkündete Marc Opelt, Vorsitzender des Otto-Bereichsvorstandes, vor wenigen Tagen. Seinen Angaben zufolge steigerte der Konzern in Deutschland „den Umsatz von 3,5 Milliarden Euro in 2019/20 auf 4,5 Milliarden Euro um rund 30 Prozent“ im bereits am 28. Februar abgeschlossenen Geschäftsjahr 2020/21. Dabei kauften so viele Kund*innen wie noch nie bei Otto ein: Von 7 Millionen Kund*innen auf otto.de im Vorjahr stieg die Anzahl 2020 um rund 35 Prozent auf 10 Millionen.
Versandhandel boomt
Über 3,7 Mio. Neukund*innen entschieden sich dafür, Produkte online oder mobil auf otto.de zu bestellen, sodass der Traffic im Shop gar um 40 Prozent gesteigert wurde. Besonders der Verkauf von Möbeln, Haushaltsgeräten und Kleidung erzielte ein noch höheres Umsatzplus. Und auch in den Nicht-Lockdown-Phasen, so jubiliert die Konzern-Leitung, „stabilisierte sich die Nachfrage auf anhaltend hohem Niveau“.
Ein Teil der so generierten Gewinne könnte den Mitarbeiter*innen direkt zugutekommen: als Abfindungen. Denn statt personell aufzustocken, plant das Unternehmen, so heißt es in einer Firmenmitteilung, den „2018 begonnenen Umbau vom Online-Händler zur wettbewerbsfähigen Plattform mit einem stetig wachsenden Markenangebot konsequent fortsetzen“. „Vom Online-Händler zur Online-Plattform“ heißt die Devise. Im Klartext: Otto plant den Angriff auf Amazon. Immer mehr Fremdanbieter sollen ihre Produkte über die Otto-Plattformen im Netz offerieren. „Uns ist es im vergangenen Jahr gelungen, über 1.000 Plattform-Partner gewinnen“, freut sich Opelt. Dieser Kurs soll nun konsequent fortgesetzt werden.
Unruhe in Belegschaft
Um auch preislich mit Amazon konkurrenzfähiger zu werden, soll der Otto-Personalkörper radikal „verschlankt“ werden. Das Sparkonzept mit dem Namen „New“ löst unter den Otto-Mitarbeiter*innen große Unruhe aus. Die Verunsicherung ist immens. Denn noch ist unklar, welche Abteilungen geschlossen oder zusammengelegt werden, welchen Mitarbeiter*innen es an den Kragen geht. „Keine*r der Beschäftigten weiß, ob er oder sie hier im nächsten Jahr noch arbeitet“, berichtet ein Mitarbeiter aus der mittleren Management-Ebene der taz.
Die öffentliche Darstellung der Otto-Gruppe aber ist eine gänzlich andere: So bezeichnet sich der Onlineanbieter als „attraktiver Arbeitgeber“ und wirbt in einer aktuellen Erklärung öffentlich damit, seit April 2020 rund 850 neue Kolleg*innen eingestellt zu haben. Weitere über 110 Stellen sind in den Bereichen IT, Business Intelligence, E-Commerce und Online-Marketing ausgeschrieben.
Die ganze Wahrheit aber werden die Mitarbeiter*innen des Otto-Konzerns erst am kommenden Dienstag erfahren.
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