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Steirischer Herbst in GrazKunst wie ein ungemütlicher Wecker

Die diesjährige Ausgabe des Steirischen Herbst in Graz ist eine Herausforderung. Die gezeigte Kunst ist ambivalent, das Publikum soll mitdenken.

Jos de Gruyter & Harald Thys, „Die Vier von der Tankstelle“ (2023), Installationsansicht Foto: steirischer herbst, kunst-dokumentation.com

Der Steirische Herbst, das jährliche Festival für Avantgardekunst in Graz, lässt einen dieses Mal recht alleine zurück. Die künstlerische Leiterin Ekaterina Degot hatte in der Vergangenheit gern auf politische Situationen reagiert. Sie stichelte 2018 mit Performances gegen die rechte FPÖ im Grazer Gemeinderat, letztes Jahr versuchte sie schon bald nach dem 24. Februar 2022 den russischen Angriffskrieg auch künstlerisch für eine Öffentlichkeit zu fassen. Das Festivalpublikum wusste dann immer, woran man bei ihr ist.

Doch der diesjährige Steirische Herbst mit seinen neun Perfomancebeiträgen und Installationen von 26 bildenden Künst­le­r:in­nen zeigt ein Programm voller Mehrdeutigkeiten. Schon die vier Ausstellungsorte lassen das pittoreske Graz in viele Richtungen schillern: ein leergeräumter Supermarkt im etwas abgehängten Bezirk Gries, das prächtige, barocke Franziskanerminoritenkloster an der Mur, ein verlassenes Callcenter in einem bürgerlichen Wohnviertel und schließlich das Forum Stadtpark, eine Instanz für die freie Kulturszene der Stadt in einem etwas kargen Bau.

Dr. Jazz war ein Nazi

„Putins mörderischer Krieg“, wie es die Russin Degot mit klarer Distanz im Programmheft abdrucken lässt, er hält an. Und er ist zerreißend geworden. Der jüngste Wahlsieg für eine prorussische Partei in der nahegelegenen Slowakei deutet es an. Suchend, mit einer gewissen Fassungslosigkeit für diesen ungetümen Zustand, fragt Ekaterina Degot unter dem Titel „Humans and Demons“ nun ab, wo wir uns heute befinden könnten. Das moralische Urteil darüber – das ist die kluge Wendung beim diesjährigen Steirischen Herbst –, das sollten wir selbst fällen.

Das Kunstfestival

„Humans and Demons“: steirischer herbst in Graz, bis 15. Oktober.

Als kuratorisches Hilfsmittel greift Degot auf Mikrogeschichten zurück, auf ambivalente Figuren der Grazer Geschichte. Auf den Deutschen Dietrich Schulz-Köhn etwa, den als Dr. Jazz bekannten Radiomoderator. Er war 1935 Mitglied des Hot Club de France, 1969 gründete er in Graz die Internationale Gesellschaft für Jazzforschung – und er war ein überzeugter Nazi, stieg während des Zweiten Weltkriegs zum Oberstleutnant der Luftwaffe auf. In den beklemmenden Räumen des Callcenters ist seine Plattensammlung ausgebreitet. Es ist eine Musik, deren Anhänger die Nazis verfolgten.

Eine unerschöpfliche Energiequelle

Auf dem Parkplatz davor hat das Duo Jos de Gruyter & Harald Thys einen schwarzen Mercedes geparkt. „Die Vier von der Tankstelle“ nennen sie ihre seltsame Installation, nach der populären Operette von 1930, „Die Drei von der Tankstelle“. Vier mannsgroße Schäferhunde sitzen darin. In biedere Damenkleider gesteckt, als stünden sie einer Pietistengemeinde vor, zielen sie ins Nirgendwo.

Innen lässt das Duo dann auch mensch­gesichtige Käfer und Reptilien in Terrarien um die absurden Produkte eines Teleshops krabbeln. Daneben schallt unkenntlich verzerrt aus Anton Kats’ rotierenden Lautsprechern das Stück „Palladium“ der US-amerikanischen Jazz-Fusion-Band Weather Report. Es hatte wohl Kultstatus in der UdSSR, ist betitelt nach einem chemischen Element, von dem sich die internationale Wissenschaft Ende der 1980er Jahre eine unerschöpfliche Energiequelle versprach. Kats kommt aus Cherson, der im Ukraine-Krieg nach dem Bruch des Kachowka-Staudamms überfluteten Stadt.

Technik und Populärkultur vermengen sich in diesen Räumen mit den Geistern der Politik. Dr. Jazz, die pietistischen Hunde oder die Teleshopper, also wir – sind sie und wir vom Lauf der Geschichte Mitgerissene oder Entscheidende? Das möchte man gerne beurteilen. Die feinen Linien dafür muss man selbst ziehen, dazu gibt die Kuratorin nur den Anstoß.

Ästhetisches Substrat einer Architektur

Im Innenhof des Minoritenklosters erinnert die polnische Künstlerin Maria Loboda mit abstrakten Betonskulpturen an die heute vernachlässigten, einst stolzen Platzanlagen in postsozialistischen Städten. Es dampft aus dem Beton. Vielleicht ist das mystisch, vielleicht sind das aber auch nur letzte Ausdünstungen einer maroden Moderne. Ein paar Meter weiter arbeitet sich die Choreografin Meg Stuart in einem Film durch den verlassenen Hochhausriegel der Grazer Vorklinik, schiebt leere Vitrinen auf und zu, dreht sinnlos an Laborstühlen. Der Bau der Medizinischen Universität Graz aus den 1970ern soll in diesen Tagen abgerissen werden.

Künstler Andreas Fogarasi hat originales Material aus der abrissbereiten Vorklinik, Zuschnitte des Teppichbodens oder hölzerne Wandvertäfelungen, zu Kompositionen geschnürt. Sie sind das ästhetische Substrat einer Architektur, die eigentlich auch einmal Ausdruck eines demokratischen Ausbildungssystems war. Wie in einer Galerie reiht Fogarasi sie im offenen, vom Wind nur so knarzenden Dachstuhl des Minoritenklosters aneinander. Barock überstülpt moderne Architektur.

Was passiert hier: Wird etwa die ästhetische Moderne als Ort der gesellschaftlichen Entfremdung angeklagt? Oder wird vielmehr bedauert, dass ihre gesellschaftlichen Versprechungen nicht eingelöst werden konnten? Auch das muss man selbst überlegen. Und darum macht diese Ausgabe des Steirischen Herbst so ungemütlich wach, weil man merkt, dass viel noch nicht zu Ende gedacht ist.

Transparenzhinweis: Die Recherche wurde vom steirischen herbst '23 unterstützt.

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