Steinskulpturen am Hudson River: Der Sisyphos von New York

Seit vier Jahren präsentiert ein albanischer Künstler am Hudson River seine Steinskulpturen. Mit viel Geduld stellt er sie jeden Tag neu auf.

Figuren aus Steinen stehen am Ufer des Hudson River

Blick gen Wasser: Steinskulpturen am New Yorker Hudson River Foto: Barbara Behrendt

Abseits der Autos schlängelt sich der Hudson-River-Greenway für Radfahrer und Fußgänger am Wasser entlang – vom südlichsten Zipfel Manhattans bis in die nördliche Bronx. Mit Sicht auf die Freiheitsstatue, die schicken Piers und den stylischen neuen „Little Island“-Park. Dann kommt der Hafen mit seinen Yachten, bis schließlich die George Washington-Brücke am Himmel steht.

Hier, kurz vor der Bronx: Harlem. Auf den Bolzplätzen kicken und skaten die Kids. Die wenigsten von ihnen sind weiß. Hispanic-Großfamilien grillen auf den Wiesen, aus den bombastischen Ghettoblastern dröhnt Latino-gute-Laune.

Und kurz bevor man am „Little Red Lighthouse“ ankommt, einem alten, pittoresken Leuchtturm, der so gar nicht in die raue Gegend passen will, tauchen sie plötzlich am Ufer auf. Nur Profil und Rücken sind zu sehen, einsam wie der Mönch am Meer wirkt jede einzelne: rund 30 Steinskulpturen, ihre Gesichter dem Wasser zugewandt.

Warten sie, beten sie, trauern sie? Grazil wirken sie und zerbrechlich. Kein Stoff verbindet ihre Einzelteile, nur vier, manchmal fünf gewöhnliche Ufer-Steine balancieren so perfekt aufeinander, dass sie sich gegenseitig stützen und zu einer aufrechten Figur wachsen.

Als seien die Figuren ins Wasser gegangen

Jeden Tag, wenn ich an ihnen vorbeijogge, hat sich die Gruppe verändert. Eine Figur fehlt. Zwei kleinere sind dazu gekommen. Als habe eine den Todesfluss Styx überquert, hinüber in den Hades. Oder habe alle Hoffnung verloren und sei ins Wasser gegangen. Und fast jeden Tag steht hier Ulysses und wuchtet die Steine.

Ulysses ist ein Mensch. Er heißt eigentlich Uliks Gryka – aber Uliks steht in seiner albanischen Muttersprache für Ulysses und so möchte er genannt werden. Obwohl Sisyphos passender wäre. Denn über Nacht werden die Figuren oft von Passanten umgestoßen. Oder eine Welle löst eine winzige Vibration aus, die das Gleichgewicht bricht.

Fast täglich kommt Ulysses ans Ufer und setzt unermüdlich neue Fundsteine aufeinander. Das kostet nichts. Außer Geduld. Es braucht Muskeln, eine ruhige Hand, einen Blick für den passenden Stein. Es ist seine Meditation. Seit über vier Jahren.

Die Figuren, sagt er, haben sich verändert. Sie sind höher, zarter geworden. Zu jeder hat er eine eigene Beziehung. Da ist die Mutter mit Kind auf dem Arm. Ein buddhistischer Mönch. Ganz vorne steht eine Art Königin, größer und schlanker als die anderen.

Millionenjahre alte Knochen

Sind es Götter? Für Ulysses nicht. Obwohl sie etwas Mythisches in sich trügen. Sie kommen schließlich aus dem Fluss, ihre Knochen sind Millionenjahre alt und ausschließlich von der Natur geprägt. Ulysses findet, es erzählt von den präzisen Kräften der Physik, dass es möglich ist, die Steine aufeinander zu balancieren. Ich finde, es erzählt von der Möglichkeit des Unmöglichen.

Jedes Mal, wenn ich Ulysses sehe, ist er ins Gespräch vertieft. Mit einer alten Asiatin auf der Bank vor den Skulpturen. Mit einer Gruppe Radfahrer, die angehalten hat. Es ist das Erstaunliche dieses eigentlich so simplen Kunstwerks, wie sehr es die Menschen fasziniert – die in New York ja so häufig eine Einwanderergeschichte mit sich tragen.

Manche sehen eine Gruppe Flüchtender, die auf Boote warten. Ein jüdischer Professor soll Juden vor dem Abtransport ins Lager imaginiert haben. Ein anderer Seelen, die auf den Fährmann warten. Warum auch immer die steinernen Männer, Frauen, Götter am Ufer stehen – sie ziehen jene an, die traurig sind, die Abschied nehmen, die einen Ort der Ruhe suchen.

Neben den Steinfiguren fühlt es sich an wie in einem Tempel voller Betender, wie bei einem Spaziergang übern Friedhof. Die Gräber dort erzählen ähnliche Geschichten wie die verwaschenen Steine hier. Und umso heiterer die eigene Stimmung, desto weniger gut sind sie zu hören.

Greencard aus der Lotterie

Wer wirft die Steine um? Ulysses sagt, er habe gehört, es seien Christen, die sie für einen heidnischen Brauch halten. Er geht dem nicht nach. Ulysses ist Ende 30 und hat 2007 in der Lotterie (im Ernst!) eine Greencard gewonnen. So kam er von Albanien und Italien, wo er Politikwissenschaften studiert hat, nach New York. Erst seine Stein-Prozession am Hudson hat ihn zum Künstler gemacht; inzwischen ist er auch in andere Skulptur-Projekte im öffentlichen Raum involviert.

Vor vier Jahren, als Ulysses erst ein paar Monate am Fluss Steine gestapelt hatte, schrieb die New York Times, er habe sich entschlossen, aufzuhören. Zwei Jahre später eine ähnliche Ansage in The World. Aber Ulysses ist noch da. Seine Skulpturen sind noch da, alle paar Tage neu. Als hätte Sisyphos je die Chance gehabt zu gehen … Man muss ihn sich, das wissen wir seit Camus, als glücklichen Menschen vorstellen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.