: „Stein- und judenfreier Strand“
■ „Mittelweg 36“ zu Antisemitismus in Nord- und Ostseebädern
Der Mittelweg 36, die nach der Hausanschrift benannte Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, erscheint bereits im zehnten Jahrgang und gilt als eine der wichtigsten Periodika in Sachen kritischer Geschichts- und Sozialwissenschaft. Berühmt wurden Zeitschrift und Institut durch die Wehrmachtsausstellung; einzigartig ist aber auch die von Wolfgang Kraushaar festgehaltene Protest-Chronik, die Berichte über sozialen Widerstand in der Nachkriegszeit versammelt, die mittlerweile in vier Bänden vorliegt (bei Rogner und Bernhard bzw. 2001 derzeit günstig zu haben) und im Mittelweg 36 von Ausgabe zu Ausgabe fortgesetzt wird.
Weitere ständige Rubriken sind eine Literaturbeilage über aktuelle geschichts- und sozialwissenschaftliche Neuerscheinungen, die Nachrichten aus dem Institut – diesmal ausführlich über die internationale Juni-Tagung „Women's Bodies as Battlefields“ sowie ein Schwerpunktthema: Über die Res-tauration der „Normalität“ in Deutschland nach 1945 schreiben Stephan Braese und Jörg Lau am Beispiel von Alfred Andersch, Franz Fühmann, Hans Magnus Enzensberger und Helmut Kohl.
Hauptbeitrag ist Michael Wildts Essay über Antisemitismus in deutschen Nord- und Ostseebädern 1920–1935. Wildt nähert sich einem in der Forschung bislang wenig berücksichtgten Thema: Wenn der Antisemitismus in der wilhelminischen Gesellschaft geradewegs zum „kulturellen Code“ (Shulamit Volkov) wurde, „kann es nicht überraschen, dass auch in den Badeorten an Nord- und Ostsee, wo Deutsche Urlaub machten, der Antisemitismus zum Vorschein kam. Warum sollten Seebäder verschont bleiben, wenn im übrigen Deutschen Reich antisemitische Ressentiments und Attacken durchaus virulent waren?“, fragt Wildt und findet bei deutschen Urlaubern eine sehr „entschlossene“ Form der Judenfeindlichkeit, deren Kennzeichen etwa „die Initiativen von unten“ waren. „Was den Antisemitismus an Nord- und Ostsee so giftig machte, war die Forderung nach Vertreibung der jüdischen Bade-gäste.“ Kurorte und Strände sollten „judenfrei“ gemacht werden.
„Doch wer dir naht mit platten Füßen / Mit Nasen krumm und Haaren kraus / Der soll nicht deinen Strand genießen / Der muss hinaus! Der muss hinaus!“, heißt es im Borkum-Lied, dessen Rhetorik eine gefährliche Nähe hat zur Semantik mancher heutiger Stimmungslieder, denen der Antisemitismus fehlt, nicht aber die Geste der Gewalt. Diese Gewalt als Signatur des 20. Jahrhunderts erkennbar gemacht zu haben, ist der Verdienst des Mittelweg 36. Roger Behrens
Mittelweg 36, Heft 4 August/September 2001
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen