Stalin auf Filmfestspielen von Venedig: Verbissene Treue

Ist mit Andrei Kontschalowskis Film „Dorogie Tovarischi!“ ein revisionistischer Film ins Rennen um den Goldenen Löwen gegangen?

Die Schauspielerin und der Regisseur posieren für die Fotografen in Venedig

Julia Wyssozkaja und Regisseur Andrei Kontschalowski bei der Premiere von „Dorogie Tovarischi!“ Foto: picture alliance/Joel C Ryan/Invision/AP/dpa

Zu den starken Frauenfiguren im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig hat sich inzwischen auch eine sowjetische Funktionärin gesellt. Sie ist zu erleben in Andrei Kontschalowskis Historienfilm „Dorogie Tovarischi!“, der in Schwarz-Weiß-Bildern vom Massaker beim Aufstand in Nowotscherkassk aus dem Jahr 1962 erzählt. Ljudmila, so ihr Name, wird gespielt von Julia Wyssozkaja, die vor vier Jahren in Kontschalowskis ebenfalls zum Wettbewerb von Venedig geladenem Film „Paradies“ als russische Adlige zu sehen war. Wyssozkaja und Kontschalowski sind privat verheiratet.

Der Aufstand in Nowotscherkassk, der zu den wichtigsten Arbeiterunruhen der Sowjetunion gezählt wird, folgte auf eine Versorgungskrise. Nikita Chruschtschow hatte die Lebensmittelpreise erhöhen und zugleich die Löhne senken lassen. Der Film beginnt damit, wie Ljudmila morgens zum Lebensmittelgeschäft geht, um ihre Rationen abzuholen. Als Mitglied der örtlichen Kommunistischen Partei muss sie nicht wie die anderen für die knappen Rationen anstehen, sondern wird diskret durch eine Nebentür eingelassen.

Als sie wenig später zu einer Sitzung des Exekutivkomitees geht, ertönen von draußen plötzlich Sirenen, drinnen klingelt das Telefon. In einer Fabrik ist ein Streik ausgebrochen. Ein zweites Telefon klingelt, in Moskau ist man schon informiert. Eine Fahrt des Exekutivkomitees zur Fabrik endet damit, dass die Funktionäre vom Militär aus der Fabrik befreit werden müssen, um sie vor den Fabrikarbeitern zu schützen.

Bei einer Krisensitzung mit Regierungsfunktionären fordert Ljudmila, man solle die Aufständischen streng bestrafen. Tags darauf rückt die Sowjetarmee an, weil die protestierende Menge inzwischen auch vor dem Sitz des Exekutivkomitees steht und ein Ende der Preisänderungen fordert. Plötzlich fallen Schüsse. Es gibt Tote. Ljudmila hat zuvor gesehen, wie ein Mann mit einem Basskoffer sich auf dem Dachboden des Gebäudes verschanzt hatte – das Militär hingegen hatte sich geweigert, auf Bürger der Sowjetunion zu schießen.

Tiefpunkt der Sowjetunion

Kontschalowski zeigt in „Dorogie Tovarischi!“ (Liebe Genossen!) einen Tiefpunkt in der Geschichte der Sowjetunion, der allerdings nicht auf das Konto Stalins geht, sondern auf das von Chruschtschow. So darf seine überzeugte Kameradin Ljudmila, deren Glaube ans System durch das Massaker schwer erschüttert wird, der Ära des Stalinismus mehr als einmal nachtrauern. „Wir brauchen einen neuen Stalin“, sagt sie voller Verzweiflung in einer Szene. Denn sie fürchtet, dass ihre eigene Tochter unter den Opfern des Massakers ist.

„Dorogie Tovarischi!“ wirkt ausgerechnet immer da am überzeugendsten, wo Ljudmila in Konflikt mit der Parteilinie gerät. So ist die Bevölkerung angehalten, nicht über die Ereignisse zu sprechen, die Regierung hat eine Nachrichtensperre verhängt. Sie jedoch will ihre Tochter finden. Wysotzkaja verkörpert diese Ljudmila als Zerrissene, schwankend zwischen ihrer verbissenen Treue zur Sowjetunion und dem Verlust des Glauben an das Gute dieses Staats, zu dem für sie auch der Schutz seiner Bürger gehört. Was nicht so ganz zu ihrer Stalinverehrung passen will.

Für „Dorogie Tovarischi!“ hat Kontschalowski Förderung vom russischen Kulturministerium erhalten. Und es fällt schwer, vor diesem Hintergrund nicht an den von Präsident Wladimir Putin betriebenen Stalinkult denken zu müssen. So ganz mag man es nicht glauben, aber kann es sein, dass dieses Jahr ein revisionistischer Film ins Rennen um den Goldenen Löwen gegangen ist? Oder erlaubt sich Kontschalowski eine Art Bluff, bei dem er den Stalinismus am Beispiel seiner verbohrten Heldin indirekt gleich mit entlarvt?

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Jahrgang 1971, arbeitet in der Kulturredaktion der taz. Boehme studierte Philosophie in Hamburg, New York, Frankfurt und Düsseldorf. Sein Buch „Ethik und Genießen. Kant und Lacan“ erschien 2005.

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