Stadtgeschichte: Kunst ist Leben

Das legendäre Hausprojekt „KuLe“ feiert ab Freitag das Erscheinen eines Buches über die Geschichte und Gegenwart einer gelebten Utopie

Der Eingang zum Club 1992 Foto: Rolf Zöllner

Eine Idee, ein Haus, eine Gruppe, ein Verein und eine Lebensform. Die mit Kugelschreiber hingekritzelten Worte im offiziellen Konzeptpapier des Berliner Hausprojekts „KuLe“, das 1990 aus der Besetzung eines fünfstöckigen Altbaus hervorging, zeigen: Es geht um etwas, wovon Dadaisten wie Kurt Schwitters vor Jahrzehnten nur träumten. Innerhalb einer Stadt einen Ort zu schaffen, an dem ein anderes Leben, ja eigentlich alles möglich ist. Vor allem aber ein Leben jenseits bürgerlicher DIN-A4-Karrieren.

Ein Ausbruch war zwar immer möglich, doch erst im Berlin der 90er Jahre verwandelte sich der Traum für viele in gelebte Utopie. Dokumentationen aus dieser Zeit gibt es heute einige. Sowohl Ulrich Gutmairs Buch „Die ersten Tage von Berlin“ oder Wolfgang Müllers „Subkultur Westberlin 1979-1989“ handeln von einer Welt zwischen Hedonismus und Anarchie, doch ihnen fehlt eine detaillierte Innensicht der Orte, in denen sie gedeihen konnte: die Hausprojekte, waren ihr soziokultureller Nährboden.

Der am Freitag erscheinende Band „KuLe: Kunst & Leben. Ein Haus in Berlin-Mitte seit 1990“ füllt diese Leerstelle. Es erzählt von jenem Haus, das 1990 von einer Gruppe von 16 KünstlerInnen besetzt und binnen weniger Monate zur zentralen Wegkreuzung der linksalternativen Kulturszene wurde. Hier wurde nicht nur anders, also basisdemokratisch, weitgehend besitzlos und gemeinschaftlich gelebt, sondern auch Kunst produziert, Theaterstücke und Konzerte und ausgerichtet und politische Aktionen geplant.

Das Buch ist der Versuch, „ein Stück Zeitgeschichte einzufangen, die unsichtbaren Fäden von Erinnerungen miteinander zu verknüpfen, […] mit Bildern aus Vergangenheit und Gegenwart einen Boden für Visionen zu bereiten“, so die Herausgeberinnen Ursula Maria Berzborn und Steffi Weismann. Die „KuLe“, das war – und ist – „680 Quadratmeter Freiheit“, und „ein Mehrgenerationenhaus mit Wahlverwandtschaften“.

Mit rund 50 deutschen wie englischen Textbeiträgen sowie Fotos, Interviews, Essays, Comics und Gedichten entstand die Chronik eines beispiellosen Projekts und darüber hinaus das Panorama einer Stadt im Ausnahmezustand.

Vom 3. bis 5. Juni feiert das Kunsthaus KuLe die Publikation „KuLe. Kunst & Leben. Ein Haus in Berlin-Mitte seit 1990“ mit Lesungen, Performances, Installationen, Konzerten, Diskussionen, Haus-Touren, einer Auktion und zwei Tanzpartys.

KuLe, Auguststr. 10, 3.–5. 6., Programm: kunsthauskule.de

Als die Mauer fiel, wurde Ostberlin zur Oase für Alternative, Anarchisten und Künstler. Viele der leerstehenden Häuser wurden sofort besetzt. Bereits im Sommer 1990 waren es allein in Berlin-Mitte rund 35, im Winter mehr als 100. Neben der „KuLe“ waren darunter das ebenfalls noch existierende Hausprojekt „Schokoladen“ in der Ackerstraße oder der noch zu DDR-Zeiten von Ostberliner Bands besetzte „Eimer“ in der Rosenthaler Straße.

Die Besetzer profitierten von der informellen Wohnungspolitik in Ostberlins Altbauvierteln, die wegen des Leerstands zu DDR-Zeiten relativ liberal war. Im Gegensatz zu Westberlin, wo der Senat im Rahmen der „Berliner Linie“ jede Besetzung umgehend räumte (im November 1990 führte die Räumung eines Gebäudes in der Mainzer Straße zu tagelangen Straßenschlachten), wurden Hausbesetzungen im Osten oft zunächst geduldet.

Das lag laut Ulrike Steglich an der auch heute noch aktiven Initiative „Förderband e. V.“ sowie an Menschen wie Dolly Leupold vom Kulturamt Mitte, die viele darin unterstützten, die Freiräume als solche zu erhalten.

Der Name des Projekts wird bis heute wörtlich genommen. „KuLe“ steht für „Kunst und Leben“, ein Lebensstil, der Kunst im bürgerlichen l’art pour l’art-Sinne ablehnt und sie stattdessen als Teil des Alltags und des öffentlichen Raums versteht.

Seit 1998 gibt es die „Fassadengalerie“ an der Außenwand des Gebäudes, ein horizontaler Stahlträger mit vertikalen Stahlseilen, an der zur Eröffnung eine Collage aus antifaschistischen Slogans hing – ein Statement zur Fassade als „Sprachrohr zur politischen Meinungsäußerung“. Dass das Hausprojekt bis heute besteht, liegt nicht nur an dem undogmatischen Ansatz der BewohnerInnen, sondern auch an einer ungewöhnlichen Eigentumspolitik.

Denn während die meisten Projekte irgendwann in den Besitz von Investoren fielen, erlangte die „KuLe“ spätestens 1993 eine gewisse Unabhängigkeit: als das Haus verkauft werden sollte, kauften es die Kunstfreunde Friedemann von Recklinghausen und Michael Wetekam. Die „KuLe“ bekam eine Senatsförderung. Im Gegenzug musste die Hausgemeinschaft acht Stunden pro Woche bei der Sanierung helfen.

Neben der weitgehend heroisierten Vergangenheit erzählt der Band auch von der Gegenwart in der Hauptstadt, deren angesagte Stadtviertel inzwischen keine Oasen der Freiheit mehr, sondern Hotspots der Gentrifizierung sind. Viele Hausprojekte fielen in den letzten Jahren Investoren zum Opfer, wie etwa die „Linienstraße 206“, das Anfang Mai geräumt wurde.

Das Haus in der Auguststraße wird mit ihrer gepflegten Sharing Economy und der kollektiven Eigentumspolitik mehr denn je zum lebendigen Bollwerk gegen das, was gemeinhin als postkapitalistisch bezeichnet wird. Doch nur Städte, die auch im Zentrum verschiedene Lebensstile und gesellschaftliche Schichten verdichten, sind im 21. Jahrhundert zeitgemäß. Die „KuLe“, das ist auch ein Leuchtturm der Zukunft.

Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg immer Donnerstags in der Printausgabe der taz

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