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Stadtforscherin über Wohnungslosigkeit„Manche müssen Körperfunktionen timen“

Wer auf der Straße lebt, für den ist vieles schwerer. Für effektive Gegenstrategien fehlt der politische Wille, sagt Andrea Protschky.

Direkt unter dem Reichstag und doch abgekoppelt von der Politik: Wohnungslosigkeit in Berlin Foto: Clemens Bilan/epa
Jasmin Kalarickal

Interview von

Jasmin Kalarickal

taz: Frau Protschky, Sie fahren mit der U-Bahn und beobachten folgende Szene: Eine obdachlose Person riecht streng, jemand setzt sich weg. Was denken Sie?

Andrea Protschky: Ich möchte einzelnes Verhalten nicht moralisch bewerten. Mich interessiert in meiner Forschung, wie bestimmte Personengruppen in unserer Gesellschaft ausgeschlossen und stigmatisiert werden. In der Beförderungsordnung des Verkehrsbund Berlin-Brandenburg steht zum Beispiel, dass „verschmutzte und übelriechende“ Personen von der Beförderung ausgeschlossen sind. Sie werden auch tatsächlich rausgeworfen. Ausgeblendet wird aber: Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass eine Person sich nicht pflegen kann?

Bild: Matthias Eckert
Im Interview: Im Interview: Andrea Protschky

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Stadtplanung an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie forscht unter anderem zu Wohnen und Wohnungslosigkeit sowie infrastrukturellen Ungleichheiten.

taz: Warum wird das ausgeblendet?

Protschky: Die Norm, dass man sich waschen soll, hat sich historisch unter anderem herausgebildet, weil es für die Krankheitsbekämpfung wichtig war. Heute ist diese soziale Norm aber so verinnerlicht, dass eine Nichteinhaltung Affekte wie Ekel hervorrufen kann. Es wird gesellschaftlich als persönliche Verfehlung betrachtet, wenn eine Person ihre Hygiene nicht aufrechterhält. Nicht berücksichtigt wird, ob die Person überhaupt die Möglichkeit hat, sich zu waschen.

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taz: Wasser, Toiletten und Strom sind in Deutschland in der Regel über die eigene Wohnung zugänglich. Sie forschen dazu, wie der Zugang zu Infrastruktur Menschen ein- oder ausschließt. Was heißt das für obdachlose Menschen?

Protschky: Für Menschen, die auf der Straße leben oder Notunterkünfte nutzen, ist es richtig schwierig. In den meisten Notschlafstellen kommt man abends an und muss morgens um 7.30 Uhr wieder gehen. In der Zwischenzeit kann man duschen, sich aufwärmen, auf Toilette gehen oder das Handy laden. Daneben gibt es auch Tagesaufenthalte, Beratungsstellen und mobile Angebote. Es gibt also Möglichkeiten, aber sie haben sehr begrenzte Öffnungszeiten.

taz: Ein Toilettengang ist für Menschen, die eine Wohnung haben, selbstverständlich. Menschen, die auf der Straße leben, müssen sich organisieren, damit sie überhaupt nur ihre Grundbedürfnisse befriedigen können.

Protschky: Ich habe mir unter anderem Infrastrukturen für Wasser, Energie und Mobilität angeschaut – und die sind sehr eng mit dem Körper verbunden. Die grundlegenden Bedürfnisse – sich zu waschen, zu trinken, an einem warmen Ort zu sein, oder die Möglichkeit, eine größere Strecke zurückzulegen – sind für wohnungslose Menschen mit großen Hürden verbunden.

taz: Welche Folgen hat das konkret?

Protschky: Menschen ohne feste Unterkunft müssen zum Teil ihre Körperfunktionen timen. Sie müssen überlegen, wann muss ich zur Toilette? Wo kann ich das tun? Wie komme ich dahin? Habe ich genug Geld dafür? Das ist ein riesiger Organisationsaufwand. Wenn man sich zum Beispiel kein Ticket für öffentliche Verkehrsmittel leisten kann, müssen oft sehr weite Wege zu Fuß zurückgelegt werden – was oft auch körperliche Folgen hat. Eine Frau hat mir erzählt, dass sie einmal Durchfall hatte und es nicht rechtzeitig auf eine Toilette geschafft hat. Sie hatte auch danach keine Möglichkeit zu duschen.

Mit sozialen Ausschlüssen werden auch immer Machtverhältnisse stabilisiert

taz: Die britische Professorin Katie Meehan und andere For­sche­r*in­nen haben in diesem Zusammenhang von einem „Wohnungsparadox im Globalen Norden“ geschrieben. Was ist damit gemeint?

Protschky: Es geht darum, dass Wohnen und Infrastruktur vor allem im Globalen Norden sehr eng verknüpft sind. Eigentlich ist das weltweit ein Ideal. Im Globalen Norden ist es aber ein Standard, dass es Zugang zu Wasser, Elektrizität, Wärme und auch Kommunikationstechnologien in der Wohnung gibt. Hat man diese Zugänge nicht, führt das aber nicht nur zu Ausschlüssen, sondern gleichzeitig zu einer Kriminalisierung. Wenn wohnungslose Menschen zum Beispiel in einem Busch auf Toilette gehen, weil sie keine andere Möglichkeit haben, dann ist das eine Ordnungswidrigkeit. Das ist mit Paradox gemeint.

taz: Was folgt daraus? Bräuchte es mehr öffentliche Toiletten? Mehr Wohnungen?

Protschky: Das ist eine wichtige Frage. Die genannten Au­to­r*in­nen befürworten tatsächlich mehr Infrastruktur im öffentlichen Raum. Ich glaube zwar auch, dass der Zugang zu kostenlosen, öffentlichen Toiletten oder Trinkwasser, Strom und WLAN die Situation verbessern würde. Aber es lassen sich nicht alle Infrastrukturzugänge, die man in der Wohnung hat, einfach im öffentlichen Raum ersetzen. Wenn Leute auf öffentliche Toiletten angewiesen sind und diese auch nachts nutzen, ist zum Beispiel die Gefahr von Übergriffen sehr groß, insbesondere für Frauen. Es fehlt der Schutzraum. Wärme, also heizen, funktioniert überhaupt nicht im öffentlichen Raum. Deswegen kann eigentlich nur der Zugang zu Wohnraum eine nachhaltige Lösung sein.

taz: Welche Strategien entwickeln Menschen, um diese fehlenden Zugänge auszugleichen?

Protschky: Sie versuchen sich zum Beispiel in Shoppingmalls aufzuwärmen, dort die Toiletten oder WLAN zu nutzen. Viele gehen aber auch mal zu Freun­d*in­nen nach Hause. Oder es werden Camps gebaut, in denen man sich eigene Lösungen überlegt. Man benutzt Gaskocher, um Essen zu erwärmen. Manchmal nehmen die Leute auch Gaskocher mit ins Zelt und das kann im schlimmsten Fall zu Feuern oder zum Ersticken führen. All diese Ersatzstrategien sind sehr prekär. Selbst wenn man bei Freun­d*in­nen duschen kann, ist man immer auf die Erlaubnis angewiesen. Das schafft einseitige Abhängigkeitsverhältnisse.

taz: Sie selbst haben diese Anstrengungen einmal „Körperlichkeit als Daueraufgabe“ genannt.

Protschky: Das Leben auf der Straße zehrt enorm an der Gesundheit der Menschen. Wenn der Körper einer wohnungslosen Person dann irgendwann in einem sehr schlechten Zustand ist, dann führt das auch zu weiteren Ausschlüssen. Wenn diese Menschen zum Beispiel in einem Café zur Toilette gehen wollen, wird es ihnen oft verwehrt, was Menschen, die nicht wohnungslos aussehen, seltener passiert. Und selbst die Notunterkünfte haben meist Hausregeln, die bestimmte Gruppen ausschließen.

taz: Welche?

Protschky: Es gibt zum Beispiel fast überall Konsumverbote in den Einrichtungen. Man kann die Beweggründe der Gemeinschaftsunterkünfte auch nachvollziehen. Aber wenn eine Person süchtig ist, dann hält sie gegebenenfalls keine Nacht ohne Konsum durch, und wer nachts einmal die Unterkunft verlässt, darf meist nicht wieder reinkommen. Das kann Menschen davon abhalten, das Angebot zu nutzen. Es gibt aber auch ganz andere Ausschlüsse: Zum Beispiel gibt es nur sehr wenig Plätze für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen oder anderweitig mobilitätseingeschränkt sind. Zum Teil sind es aber auch einfach die Zustände in den Einrichtungen selbst, weshalb die Leute diese nicht nutzen wollen.

taz: Sie haben für Ihre Forschung mit vielen Betroffenen gesprochen. Was haben die über die Zustände erzählt?

Protschky: Dass es nicht so sauber ist, dass es übel riecht. Dass es lange Wartezeiten gibt und man sich nicht sicher sein kann, ob man wirklich reinkommt. Ganz häufig wurden auch andere Gäste als Problem angesprochen, dort sind ja viele Menschen auf engem Raum untergebracht. Es kommt zu Konflikten, zu Diebstahl. Ich selbst habe auch länger in einer Unterkunft gearbeitet. Zum Teil haben Menschen auf dem Boden geschlafen, auch ohne Matratze und Decke, wenn sie zu spät in die Einrichtung kamen und der Schlafsaal schon voll war. Das sind Bedingungen, bei denen ich verstehe, dass es für manche Leute angenehmer ist, draußen zu schlafen oder sich im Camp gut einzurichten.

taz: Nicht nur bei den Notfallschlafstellen, auch bei den ordnungsrechtlichen Unterbringungen, den Wohnheimen, werden Zustände kritisiert. Im Rahmen des Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit sollen Mindeststandards entwickelt werden. Warum gibt es die nicht längst?

Protschky: Auch die ordnungsrechtlichen Unterkünfte sind eigentlich nur als Notlösung konzipiert. Aber in der Realität werden diese von Menschen zum Teil über Jahre bewohnt. Der Wahnsinn daran ist ja, dass diese Unterkünfte gleichzeitig sehr teuer für die Kommunen sind – viel teurer, als wenn man perspektivisch einfach Wohnungen anmieten würde.

taz: Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass Obdachlosigkeit als individuelles Versagen betrachtet wird?

Protschky: Mit sozialen Ausschlüssen werden auch immer Machtverhältnisse stabilisiert. Die allermeisten Menschen verlieren ihre Wohnung zum Beispiel wegen Mietschulden. Wenn Menschen am Ende zwangsgeräumt werden, erfüllt das auch die Funktion, dass alle anderen pünktlich ihre Miete bezahlen. Deswegen gibt es auch kein politisches Interesse, auf Zwangsräumungen zu verzichten. Sie sind ein Druckmittel für die breite Masse, sich konform zu verhalten.

taz: Wie zuversichtlich sind Sie, dass 2030 niemand mehr wohnungslos ist – so wie es sich Deutschland vorgenommen hat?

Protschky: Es fehlt einfach an politischem Willen. In Finnland wird der Housing-First-Ansatz sehr großflächig praktiziert, es wird Wohnraum für wohnungslose Menschen über eine Stiftung gebaut und zur Verfügung stellt. Das ist nachgewiesen sehr erfolgreich. Hier gibt es einzelne Projekte und es wird geforscht, aber eigentlich liegen alle Daten längst auf dem Tisch. Wir müssten nicht nur mehr Wohnraum bereitstellen, sondern auch den Verlust der Wohnung vermeiden. Solange Wohnraum als Ware behandelt wird, steht er zunächst einmal nur denen zur Verfügung, die sich ihn leisten können.

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